
Das große Schlachten
Nach der Machtübernahme der Islamisten in Syrien herrschte Jubel, aber auch Skepsis. Würden die ehemaligen Kämpfer der berüchtigten Al-Nusra-Front nun wirklich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bringen? Die aktuellen Ereignisse sprechen dagegen.
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Die Bilder aus Syrien sind schockierend. Leichenberge, abgeschlachtete Menschen, darunter Frauen und Kinder. Verwirrend waren die ersten Meldungen aus der Region. Offizielle Regierungsstellen sprachen von „Aufständischen“, die den vertriebenen Diktator Bashar al-Assad zurück putschen wollten. Als Indiz dafür wurde genannt, dass die Gewalt von den Hochburgen der Alawiten ausgegangen war, einer Minderheit, der auch Assad angehört. Die Angriffe seien geplant gewesen und die Kämpfe dann eskaliert. Es war die Rede von mehr als 1000 Toten.
In den sozialen Medien kursierten daraufhin Meldungen von aus der Region stammenden anderen Zeugen, die von einer Verdrehung der Tatsachen schreiben. Sie behaupten, dass Assads Milizen die Sicherheitskräfte brutal angegriffen hätten, die die Minderheit der Alawiten schützen wollten. Und sie hätten sogar in den Nachbardörfern gezielt Massaker an Zivilisten angerichtet, um sie den Regierungskräften der HTS in die Schuhe zu schieben. Damit wollten sie die Aufmerksamkeit der internationalen Medien gezielt auf die Alawiten richten und ethnische Spannungen schüren. Es wird also eine „false flag“-Aktion behauptet.
Gegner "neutralisiert"
Am 10. März erklärte Ministeriumssprecher Hassan Abel laut Nachrichtenagentur SANA, dass der Einsatz „erfolgreich“ verlaufen sei, alle Ziele seien erreicht worden. Die Regierungskräfte hätten alle „Sicherheitszellen und Regimeüberbleibsel“ in Latakia und der Provinz Tartus „neutralisiert“.
Dem stehen andere Meldungen entgegen, etwa von "Kirche in Not" und Christian Solidarity International (CSI). Christen aus der Region berichten von Massakern an Unschuldigen, an Zivilisten, an Frauen und Kindern – nicht nur Alawiten, auch Drusen und Christen seien ermordet worden. Es ist gar die Rede von einem Genozid an den Alawiten. Ganze Dörfer seien niedergemacht worden.
Der malerische Küstenort Latakia war Schauplatz eines Massakers. © CommonsWikimedia.
Ein Augenzeuge und katholischer Priester aus der Region berichtet von mehr als 4000 Opfern. Es herrsche Angst. „Die Leichen der Menschen, die auf den Straßen liegen, sind Alawiten, sie sind auch unsere Brüder. Es gibt auch viele Christen, die getötet wurden. Wir können diese Realität nicht akzeptieren. Die Täter sind Kämpfer der Hayat Tahrir al-Sham und angeschlossener Gruppen. Unter ihnen sind viele Ausländer: Aus Aserbaidschan, Tschetschenien und aus vielen anderen Ländern. Selbst der Staat hat angeblich keine Kontrolle über sie, wie al-Dscholani gestern sagte, dass es sich um unkontrollierte Gruppierungen handelt; aber wir wissen, dass sie mit seinem Segen arbeiten. Frauen werden vor den Augen ihrer Kinder hingerichtet, ebenso die Kinder und alle anderen im Haus.“
Al-Nusra war Terrororganisation
Die Organisation CSI ruft in Erinnerung, auf welchen Wurzeln die aktuelle syrische Regierung, die kürzlich durch einen Putsch an die Macht gelangte, beruht: „Die vom aktuellen „Übergangspräsidenten“ Syriens, Ahmad al-Sharaa (Kampfname Abu Mohammad al-Dscholani), 2012 gegründete al-Nusra-Front, die Vorgängerorganisation der HTS, hatte den Schlachtruf „Alawiten ins Grab, Christen nach Beirut!“ (…) Was Ahmad al-Scharaa als Gründer und Kommandeur der al-Nusra-Front nicht erreichte, scheint er nach dem Sturz des Assad-Regimes nun umzusetzen.“
Ahmed al-Sharaa (re) und der Anführer der kurdischen SDF-Miliz Mazloum Abdi unterzeichneten am 10. März 2025 ein Abkommen, durch das die SDF aufgelöst werden soll. © CommonsWikimedia.
Der katholische Bischof von Aleppo, Hanna Jallouf, rief via Kirche in Not zur Mäßigung auf: „Wir schließen uns der Stimme aller ehrlichen und patriotischen Menschen in diesem Land an und betonen unsere Ablehnung jeglicher Form von Gewalt, Rache und Vergeltung aus konfessionellen und religiösen Gründen. Wir appellieren an die Behörden des Landes, diese Angriffe, die mit allen menschlichen, moralischen und religiösen Werten unvereinbar sind, rasch zu beenden.“ Und der griechisch-orthodoxe Patriarch Johannes X. berichtet von Schändungen christlicher Symbole.
Islamisten-Führer Dscholani
Was genau in Syrien passiert ist, ist derzeit noch nicht abschließend zu beurteilen. Jedenfalls war bereits bei der Machtübernahme der HTS unter Dscholani befürchtet worden, dass die Islamisten bald wieder in ihre alten Muster zurückfallen würden; Dass es unmöglich sei, unter ihrer Herrschaft ein demokratisches Land mit einem friedlichen Miteinander der religiösen Gruppen zu etablieren. Kaum ein Syrer, der nach Europa geflohen war, kehrte seit dem Machtwechsel zurück. Nicht einmal jene, die den neuen Machthabern zujubelten – allein in Wien waren es immerhin etwa 30.000 Syrer, die vor dem Parlament spontan den Sieg der Islamisten und die Vertreibung Assads feierten.
Gleich nach der Machtübernahme gaben sich die Spitzenpolitiker aus aller Welt die Klinke in die Hand, um dem neuen Machthaber Ahmad al-Sharaa die Aufwartung zu machen. Auch die neue EU-Kommissarin für Gleichbehandlung und den Schutz der Minderheiten, die ehemalige algerisch-stämmige belgische Außenministerin Hadja Lahbib, reiste am 17. Jänner zu einem offiziellen Gedankenaustausch an. Der Effekt ist, wenige Wochen später, denkbar gering. Im Gegenteil werden Minderheiten niedergemetzelt. Die neuen Machthaber nahmen zwar gern das Geld aus der EU, kümmern sich aber ansonsten offenbar nicht um deren Vorgaben.
EU-Kommissarin Hadja Lahbib bei ihrem offiziellen Besuch beim neuen syrischen Staatschef Ahmed al-Sharaa. © CommonsWikimedia.
Der in Berlin lebende Palästinenser und Psychologe Ahmad Mansour weist auf ein grundlegendes Problem und Missverständnis Europas hin, wenn es um die Demokratisierung des Nahen Ostens gehe. Er berichtet auf LinkedIn beispielhaft von einem Erlebnis: „Während des sogenannten „Arabischen Frühlings“ besuchte ich eine Veranstaltung in Berlin, die sich mit den politischen Umbrüchen in der arabischen Welt beschäftigte. Der Referent war voller Optimismus. Er sprach von Demokratisierungsprozessen, von einem neuen Kapitel für den Nahen Osten, von einem Aufbruch, der endlich die alten autokratischen Strukturen überwinden würde.
Ich meldete mich zu Wort. Ich fragte: Woher soll diese Demokratie kommen? Wie kann eine demokratische Kultur entstehen, wenn die kleinste soziale Einheit – die Familie – nach autokratischen Prinzipien funktioniert? Wenn patriarchale Traditionen und religiöse Dogmen individuelle Mündigkeit unterdrücken? Wenn Gewalt als legitimes Mittel der Erziehung und des gesellschaftlichen Umgangs akzeptiert wird? Wenn Abweichler nicht geduldet, sondern zum Schweigen gebracht werden? Demokratie ist nicht nur eine Wahlurne. Demokratie bedeutet kritisches Denken, Hinterfragen, Individualität, den Schutz von Minderheiten, die Trennung von Religion und Staat – all das ist in weiten Teilen des Nahen Ostens kaum vorhanden.“
Transparent der neuen Regierung in Aleppo vom Februar 2025 mit einer zweideutigen Botschaft an die Bvölkerung: "Hand in Hand bauen wir das Syrien der Zukunft, Hand in Hand beenden wir, was die Märtyrer begonnen haben." © CommonsWikimedia.
Keiner der Versuche, Demokratie in diese Region zu exportieren, war erfolgreich. Das Ergebnis waren im Gegenteil meist noch mehr Gewalt und Chaos, wenn ein Diktator gestürzt wurde. Das war im Irak so und nun auch in Syrien. Und es gibt kein Land, das von Islamisten regiert wird, und das westliche Demokratie, Menschenrechte, Frauenrechte und echte Toleranz praktiziert. Es scheint, dass Syrien dabei keine Ausnahme macht. Dennoch wurde das neue Regime von europäischen Politikern hofiert, allen voran Deutschland, die sich die Klinke in die Hand gaben und großzügige Geldgeschenke mitbrachten. Die Minderheiten in Syrien waren jedoch von Beginn an abwartend und vorsichtig.
Als im Dezember des Vorjahres Assad gestürzt worden war, meinte ein Arzt aus Aleppo: „Wenn nichts unternommen wird, bleiben wir unter dem Joch der Dschihadisten. Es wird nicht besser.“ Es scheint, als würde er mit seinem Pessimismus recht behalten.♦