Der Islam - Ein politisches Staatskonzept
Kundgebungen in Westeuropa, bei denen lauthals das Kalifat verlangt wird, wirken verstörend. Es handle sich um eine kleine Gruppe von Extremisten, wird beruhigt. Stimmt das? Und ist ein rein islamischer Staat realistisch?
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Die Bilder der Demonstrationen in Hamburg im Mai 2024, bei denen ein Kalifat gefordert und propagiert wurde, gingen durch alle Medien. „Das Kalifat ist die Lösung“, prangte groß auf den Transparenten. Fanatische Redner peitschten die Demonstranten, die fein säuberlich nach Geschlechtern getrennt auftraten, auf. Und dies nicht zum ersten Mal. Bereits in den vergangenen Jahren eroberten die Anhänger eines Staats nach islamischen Regeln immer wieder die Öffentlichkeit. Und sie entzündeten jedesmal eine heftige Diskussion, sowie deutliche Absagen durch die Politik. Erlaubt wurden sie trotzdem, denn es handle sich um das Recht auf freie Meinungsäußerung. Staatsverweigerer ortete man anderswo.
Auch die Gräueltaten des „IS“, der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ im Zuge des Syrien-Kriegs sind unvergessen, die ebenfalls das Ziel hatten, ein Kalifat errichten zu wollen. Hinrichtungen, abgehackte Gliedmaßen und Steinigungen wurden als „Scharia“ praktiziert. Die IS-Anhänger nannten sich nach dem ersten Kalifen des Islam „Abu Bakr“. Die Bilder der schwarz gekleideten Kämpfer mit ihren Stirnbändern und fanatischem Gesichtsausdruck gingen durch die Weltpresse. Unter ihnen viele, die aus westlichen Ländern zu ihnen gestoßen waren. Es handle sich um eine Gruppe von Terroristen, von fehlgeleiteten Fanatikern, die Religion als Rechtfertigung von zügelloser Gewalt missbrauchten. So lautete zumindest die Interpretation westlicher Medien und offizieller Islam-Vertreter. Die sei nicht der wahre Islam.
Also alles nur ein Randproblem kleiner, irregeleiteter Gruppen, die den Koran und andere islamische Lehren falsch interpretieren? Muss sich der Westen also nicht vor einem Kalifat fürchten?
Blütezeiten im Mittelalter
Die Verteidiger des politischen Islam verweisen zur Entkräftung der Sorge vor einem Erstarken des Islam auf das segensreiche Wirken toleranter und gebildeter Kalifen des Mittelalters. Die Geschichte zeige ein anderes Bild des Islam. Und Touristen, die Marokko, Tunesien oder Südspanien besuchen, werden gerne auf die beeindruckende Kultur und fortschrittliche islamische Gesellschaft des frühen Mittelalters verwiesen. Während im christlichen Mitteleuropa Finsternis, Gewalt und Intoleranz gegen andere Religionen herrschten, seien diese Länder Orte von Toleranz und Wissenschaft gewesen. Dies trifft etwa auf die Herrschaft der Almoraviden im 11. Jahrhundert zu, doch währte diese nur kurz und war somit ein Fenster in Zeiten von Stammeskriegen, Chaos und Gewalt in dieser Region. Die Almoraviden, die die maurische Kunst und Kultur prägten, wurden vom Berberstamm der Almohaden gestürzt. Deren Anführer Abd el Moumen förderte nachfolgend ebenfalls Kunst und Wissenschaft, setzte seine Macht jedoch mittels brutaler Gewalt, Kriegen und Massenhinrichtungen in Tunesien, Marokko und Spanien durch. Dessen Sohn, Abu Youssef Yacoub al-Mansur, verhalf dann im 12. Jahrhundert der maurischen Kultur zu einer Hochblüte in Kunst, Architektur und Wissenschaft. Der spanische christliche König Alfons besiegte 1212 jedoch die Almohaden und vertrieb sie aus Spanien. Die wechselvolle Geschichte der Region als ein Kampf verschiedener islamischer Stämme und Dynastien sowie christlichen Reichen nahm ihren Lauf, der meist blutig war.
Oft werden die Kreuzzüge des 13. Jahrhunderts ins Treffen geführt, als Beleg für die Gewaltbereitschaft der Christen gegen die Muslime. Und im Osmanischen Reich, so wird erzählt, hätte Toleranz gegenüber Andersgläubigen geherrscht. Also kein Grund zur Besorgnis?
Angesichts der aktuellen Rufe nach dem Kalifat in Europa lohnt es sich, der Frage nachzugehen, wie ein solches muslimisches Herrschaftsmodell in der Gegenwart aussehen könnte? Eine Blaupause dafür gab einer der bekanntesten muslimischen Staatsgründer des 20. Jahrhunderts: Ajatollah Khomeini. Er gab ein Beispiel, dass der Islam nicht nur eine Religion, sondern auch und vor allem ein Staatsmodell ist. Durch die von ihm angeführte Revolution stürzte er den persischen Schah und gründete vor 45 Jahren die „Islamische Republik Iran“.
Den theoretischen Überbau und die Grundlage des heutigen Iran bildet eine Schrift, die in Europa auch heute noch kursiert und sogar in deutscher Sprache neu aufgelegt wurde: „Der Islamische Staat“ von Imam Sayyid Ruhullah Chomeini, so sein vollständiger Name. Dieses Zeitdokument basiert auf Vorlesungen, die der damalige Imam Khomeini im Jahr 1970 im Exil im Irak, in der Universität von Nadschaf, vor Studenten gehalten hatte. Diese hatten die Mitschrift zu einem Buch zusammengestellt und verbreitet. Im damaligen Königreich Persien war dieses naturgemäß verboten, richtete es sich doch gegen die Herrschaft von Schah Reza Pahlewi und seinen westlich orientierten Lebens- und Regierungsstil.
Doch es ging dem damaligen Imam und späteren Revolutionsführer um viel mehr, als gegen den Schah zu agitieren und diesen zu stürzen. Liest man den Text, so entspinnt sich eine Argumentationskette, die in sich völlig logisch und nachvollziehbar und somit auch aktuell erscheint.
„Das wahre Wesen des Islam ist politisch“
Khomeinis Kritik lautete: Der Westen und die von ihm beeinflussten Theologieschulen würden den Islam falsch und verzerrt darstellen. Als „Religion, die lediglich Reinheitsgebote, Moral und Seele betreffe, jedoch nichts enthalte, das dem praktischen Leben und der Verwaltung der Gesellschaft diene“, so Khomeini. Er legte dar, dass auch das Rechtssystem, die Politik, die Gesetzgebung, die Wissenschaft, die Medizin, die gesellschaftlichen Regeln, der Alltag – einfach alles durch den Islam vorgegeben sei. Khomeini beruft sich dabei auf den Koran und die von den Schiiten anerkannten Hadithe, also Erzählungen des Propheten, seiner Gefährten und deren Schüler. Diese enthielten nur zu einem kleinen Teil gottesdienstliche Weisungen sowie Fragen der Ethik und Moral. Der Großteil befasse sich jedoch mit Sozialem, Wirtschaft, Recht, Politik und Verwaltung. Khomeini selbst beschrieb die politische Bedeutung des Islam in der Einleitung zu diesem Text, und dass Religion und Politik nicht voneinander getrennt werden dürften. „Auch der Prophet war ein Politischer“, postulierte er.
Die Verkürzung des Islam auf das rein Religiöse werde bewusst von den „Kolonialmächten und ihren Handlangern“ propagiert, um der Religion den Einfluss auf das Weltliche zu nehmen und die Bildung einer islamischen Gesellschaft zu verhindern. Die Natur des Islam würde bewusst versteckt und die falsche Vorstellung erweckt, dass „der Islam lediglich ein paar Hinweise und Anordnungen zur Schöpfer-Gott-Beziehung beinhaltet und zwischen Moschee und Kirche kein wesentlicher Unterschied bestünde“. Das Ziel dieser Irreleitung sei es, das „Engagement und die Dynamik der Muslime zu blockieren und ihr Streben und ihren Wunsch nach Freiheit, nach Verwirklichung der islamischen Weisungen und nach einer islamischen Regierung, die ihnen Wohlergehen und ein menschenwürdiges Leben ermöglicht, von vornherein abzuwürgen“.
Der Islam sei jedoch nur dann verwirklichbar, seine Gesetze seien nur dann vollkommen lebbar für die Gläubigen, wenn er in seiner Gesamtheit realisiert werde, postulierte Khomeini. Dazu gehöre auch das Rechtssystem. „Das islamische Recht ist ein progressives. Es ist komplett und universal. Es gibt umfangreiche islamische juristische Werke, die vor langer Zeit zu den verschiedensten Rechtsfragen geschrieben wurden. (..) Es gibt nichts, zu dem der Islam nichts gesagt bzw. angeordnet hätte.“ Durch die Einführung westlicher Gesetze, die Khomeini für untauglich, ungerecht und als zu kompliziert erachtete, wolle man die Gebote des Islam eliminieren. Die westlichen Gesetze seien von Menschen erdacht, die islamischen Gesetze hingegen seien göttliche Gesetze, die der Prophet überbrachte, führte Khomeini den Studenten gegenüber aus.
Der Kalif als Nachfolger des Propheten
Zur Durchsetzung dieser Gesetze war ebenfalls der Prophet bestimmt und in seiner Nachfolge der Kalif. Dies geht auf die Vorstellung des „Waliy-ul-Amr“ zurück, einem Leitenden, Regierenden mit Befehlsgewalt. Dieser wurde vom Propheten bestimmt als Nachfolger und Statthalter „Ein Kalif war notwendig, damit er die Führung in die Hand nahm und für die korrekte Durchführung der Gesetze sorgte.“ Der Kalif erlässt in dieser Vorstellung keine Gesetze, wie ein absolutistischer Herrscher, sondern er muss die göttlichen Gesetze verwirklichen. Dazu braucht er, so die Argumentation Khomeinis, eine Regierung, eine Exekutive und Verwaltung, damit die Gesetze respektiert werden. Dies gilt für alle Bereiche: Gesellschaftsordnung, Völkerrecht, Strafrecht und Steuerrecht bis hin zu militärischen Angelegenheiten.
Das islamische Recht geht also weit über die Scharia hinaus und beinhaltet Weisungen für die gesamte Gesellschaftsordnung. Diese Rechtsordnung betrifft nicht nur Muslime, sondern auch Nicht-Muslime. Als Beispiel nennt er die „Dschizyah“, die Steuer, die „Ahl-ul-Dhimma“, sogenannte Schutzbefohlene, etwa Christen, zu entrichten haben.
Zur Gewährleistung der göttlichen Gesetze und islamischen Gebote, ihrer Gültigkeit und Durchsetzung, sei ein entsprechender Staat nötig, so die Argumentation Khomeinis. „Denn ohne dieses, dass eine intakte, funktionstüchtige Regierung und Exekutive vorhanden sind, gibt es für die Praktizieren der göttlichen Gebote keine Garantie.“
Revolutionäre in Täbriz 1978 (© Wikimedia Commons)
Das Kalifat ist nach dieser Argumentation also ein Gottesstaat, in der ein Kalif dafür sorgt, dass alle Muslime die göttlichen Gesetze befolgen, und zwar zu ihrem eigenen Heil. Zu ihrer Durchsetzung braucht es Organe und die Scharia, die die legislative Gewalt verkörpern. Regierungen, die nicht diesem Prinzip folgen, müssen gestürzt werden. Damit wandte sich Khomeini offen gegen den Schah, aber auch gegen alle anderen westlichen Staaten, allen voran die USA und England, seine Erzfeinde. Muslime dürften sich keinesfalls den Gesetzen der Gottlosen, den menschengemachten Gesetzen unterwerfen, sondern nur den islamischen. Daher sollten sie im Streitfall nicht bei weltlichen Gerichten um Gerechtigkeit ansuchen, sondern bei islamischen Richtern und Rechtsgelehrten. Nur dort könnten sie rasch echte Gerechtigkeit finden. In Anbetracht, dass der göttliche Wille allein zähle, seien nach Ansicht Khomeinis die Vorschriften der Scharia keineswegs grausam, wie etwa Steinigung, Hände abhacken oder Hinrichtungen. Das islamische Strafrecht sei schließlich gegeben worden, „um die menschliche Gesellschaft vor Unheil und Verderb zu bewahren“. Es kümmere sich um die Armen und Unterdrückten, befreie die Muslime aus Unterdrückung und beende die Ausbeutung.
Mit all diesen Versprechen konnte Khomeini viele Menschen im Iran überzeugen und begeistern. Schließlich versprach er das Paradies und Gerechtigkeit auf Erden. Und es gelang ihm, dass viele seinem Aufruf zum Umsturz und zur Revolution folgten. Allerdings hat die Geschichte seit 1979 gezeigt, wie er seine Thesen in die Praxis umsetzte. Bis heute prägen seine Vorstellungen den Iran. Doch seine Ansichten über die Herrschaft des Islam sind nicht eine rein subjektive, sondern sind in den Schriften, auf die er sich beruft, allen voran den Koran, begründet. Und wie man sieht, berufen sich auch andere auf sie und finden ihre Anhängerschaft. Ein Islam europäischer Prägung, ein Euro-Islam, ist vor diesem Hintergrund keine Alternative, sondern ein Feindbild. Es handelt sich nach der Lesart der Kalifats-Anhänger um genau jene „Handlanger der Kolonialisten und Ungläubigen“, von denen Khomeini sprach. Der Islam nach dem Modell des Kalifats ist somit mit europäischer Demokratie, Pluralismus und Rechtsstaat völlig unvereinbar. Er will diesen darüber hinaus aktiv zerstören und durch ein islamisches System, das in alle Belange eingreift, ersetzen.
Zum Weiterlesen:
Der Koran. Aus dem Arabischen von Max Henning. Reclam Verlag 2001.
Bat Ye’or, Europa und das kommende Kalifat. Der Islam und die Radikalisierung der Demokratie. Berlin, 2014.
Rezension dazu in: Die Presse "Der Prophet in Brüssel"
„Die Welt“: Das nächste Schlachtfeld ist Europa.
Nina Scholz, Heiko Heinisch, Alles für Allah. Wie der politische Islam unsere Gesellschaft verändert. 2019.
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