Die Drohnen und das Versagen der Medien
In den vergangenen Wochen wurde in Europa Drohnenalarm gegeben. Überall tauchten mutmaßlich russische Drohnen auf. Es kam sogar zu einer UN-Sondersitzung und einem Nato-Alarm. Doch wie gefährlich war es wirklich? War dies in allen Fällen gerechtfertigt? Fragten die Medien nach? Ein Lehrstück anhand eines Fallbeispiels.
Artikel als Audio anhören
Es war am 15. September dieses Jahres, als erneut eine Drohnensichtung bekannt wurde. Vermeldet wurde sie von niemand Geringerem als dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk. Er schrieb um 20 Uhr 16 auf X:
„Vor kurzem hat der Staatsschutzdienst eine Drohne neutralisiert, die über Regierungsgebäuden (Parkowa) und dem Belvedere flog. Zwei belarussische Staatsbürger wurden festgenommen. Die Polizei untersucht die Umstände des Vorfalls.“

Die Medien überschlugen sich daraufhin in Schlagzeilen, so meldete etwa die hoch angesehene Hamburger „Die Zeit“ in ihrer Online-Ausgabe, die einige Stunden später aktualisiert wurde: „Polen meldet Flug unbekannter Drohne über Regierungsgebäuden“, lautete die Schlagzeile. Und weiter: „Der polnische Staatsschutz hat eine Drohne über dem Präsidentenpalast "neutralisiert". Polens neuer Präsident Karol Nawrocki bittet die Nato um Unterstützung. Der polnische Staatsschutz hat nach Angaben von Ministerpräsident Donald Tusk eine Drohne nach einem Flug über Regierungsgebäude in Warschau unschädlich gemacht. Die Drohne sei über sensiblen Regierungsstandorten sowie den Präsidentenpalast Belvedere geflogen, schrieb Tusk auf X. Nach Angaben Tusks wurden zwei belarussische Staatsbürger im Zusammenhang mit dem Vorfall festgenommen. Die Polizei untersuche die Umstände, hieß es. Belarus ist einer der engsten Verbündeten Russlands.“
Fast wortgleich fanden sich diese Schlagzeilen überall, wenngleich viele das Wort „unbekannt“ wegließen. Die österreichische Kronen-Zeitung ergänzte die Nachricht mit einem interessanten Zusatz: Aktuell würden die „Umstände des Vorfalls“ untersucht. Wenige Minuten vor seiner Bekanntgabe schrieb Tusk kryptisch: „Suchen Sie nicht im Westen nach einem Feind. (...) Die Bedrohung kommt aus dem Osten und von all jenen, die die euro-atlantische Einheit stören wollen.“
Politische Agenda übernommen
Für Donald Tusk, deklarierter Unterstützer der Ukraine und der Waffenlieferungen, war die Sache also von Beginn an klar. Noch bevor konkrete Untersuchungsergebnisse vorlagen. Nun ist Tusk Politiker mit einer politischen Agenda, somit ist es legitim Vorfälle in dem Sinn zu interpretieren, als sie in die eigene Agenda passen. Und diese lautet: Unterstützung durch die Nato zu erreichen, um das als gefährlich eingeschätzte Nachbarland im Zaum zu halten.
Die Rolle und Aufgabe der Medien hingegen ist es, Aussagen von Politikern nicht einfach zu übernehmen und an das Publikum weiterzureichen. Vielmehr ist es deren Aufgabe, Aussagen kritisch zu hinterfragen, zu überprüfen, andere Quellen zu befragen und Licht ins Dunkel von unklar erscheinenden Vorgängen zu bringen.
Nun, in diesem Fall haben dies etliche polnische Medien auch getan. Nur einen Tag nach dem Vorfall der Drohne über dem Präsidentenpalast gab Jacek Dobrzynski, Sprecher des Koordinators für Sonderdienste, eine Pressekonferenz. Auf dieser erklärte er: „Die Beamten des Staatsschutzdienstes handelten sehr wachsam und schnell und konnten die Personen identifizieren, die die Drohne bedienten." „Es handelt sich um eine junge Weißrussin und ihre etwa zwanzigiährige ukrainische Freundin. Diese Personen wurden sofort von Beamten des Staatsschutzdienstes festgenommen. Die Polizei wurde benachrichtigt, traf am Tatort ein und verhaftete sie", fügte er hinzu.“ Das verlautbarten etwa das polnische Radio Zachód.
Und das Nachrichtenportal TVN24 und stellte ein Video der Presseerklärung online.
Pressekonferenz auf TVN24. © Screenshot Libratus.
Dobrzynski erklärte weiters, man dementiere Gerüchte, dass es sich um eine massive Spionageaktion handle. „Das sind junge Leute, vielleicht war es Nachlässigkeit, vielleicht Unwissenheit, vielleicht wollten sie hier einen Film über dem tazienki-Park (Königspark) drehen. Vor allem, weil sie sich im tazienki-Park befanden und dort die Drohne geflogen wurde", fuhr er fort.“ Ähnliches gab auch der Sprecher der Bezirksstaatsanwaltschaft Warschau, Piotr Antoni Skiba, bekannt, der als Staatsanwalt ebenfalls als seriöse Quelle gelten muss: Die Beweise deuteten auf einen Verstoß gegen das Luftfahrtrecht hin, nicht auf Spionage. Dies bestätigte sich auch. Die Verhafteten wurden bald freigelassen und ihnen bloß zur Last gelegt, dass sie ihre Drohne, mit der sie in einem Park nahe des Palasts Luftaufnahmen für private Zwecke machen wollten, unwissentlich in unerlaubte Bereiche gelenkt hatten. Das war es.
Jugendliche: Belarussin und Ukrainer
Und die meisten polnischen Kollegen machten auch sonst ihre Arbeit, wie sich das für Journalisten gehört: Sie recherchierten und fragten nach. Das Ergebnis, das ebenfalls bereits am 16. September veröffentlicht wurde: „TVN24-Reporter Jan Piotrowski erfuhr, dass es sich bei den Festgenommenen um einen 21-jährigen ukrainischen Staatsbürger und eine 17-jährige belarussische Frau handelte. Diese Information wurde von der Polizei bestätigt. Der Premierminister hatte die Festnahme zweier belarussischer Staatsbürger am Montagabend bekannt gegeben.“
Damit hatte sich die Behauptung Tusks in Luft aufgelöst.
Keine Korrektur
Interessant und aufschlussreich ist, was danach passierte, als die Sache aufgeklärt war aus Sicht der Polizei, der Staatsanwaltschaft und des Geheimdienstes. Die polnischen Medienberichte riefen keinerlei Reaktion hervor: Ministerpräsident Tusk revidierte seinen voreiligen Post nicht. Ganz im Gegenteil. Am 22.September kündigte er „harte Reaktionen“ auf Luftraumverletzungen an. Und am 24. September verkündete Polens Verteidigungsminister, man beteilige sich an Beratungen der EU zu einem Drohnenwall. Zu diesen Beratungen hat die EU-Kommission Vertreter von sieben „Frontstaaten“ eingeladen – gemeint ist die Front gegen Russland. Die Folgewirkungen dieser und vieler anderer Drohnensichtungen, bei denen die Urheberschaft nicht geklärt oder sich als harmlos herausgestellt hatte, sind also beträchtlich.
Doch selbst die enorme Tragweite der Vorkommnisse veranlasste ausländische Journalisten offenbar nur in Einzelfällen, selbst zu recherchieren. Ganz wenige Medien außerhalb Polens berichteten später über wahre Hintergründe und haben nachrecherchiert, so etwa das Portal Bluewin aus der Schweiz. Doch davon haben die großen Medien offenbar nichts mitbekommen. Man übernahm weiterhin Politikeraussagen und Agenturmeldungen, in denen die Hintergründe und Erkenntnisse der Behörden nicht erwähnt wurden.
Bild recherchierte bei sich selbst
Aufschlussreich der Bericht der „Bild“, Deutschlands reichweitenstärkstem Medium. Dort hieß es am 15. September um 21.57 Uhr: „Polen-Premier Tusk teilt mit: Drohne über Präsidentenpalast „neutralisiert“. Und weiter unten im Artikel: „Die Drohne wurde laut „Fakt“ (gehört wie BILD zu Axel Springer) in der Parkowa-Straße in Warschau gesichtet, wo sich Regierungsvillen und der Präsidentenpalast Belvedere befinden.“
Und dann wird das zum eigenen Medienhaus gehörende polnische Medium „Fakt“ nochmals zitiert: „Dies scheint eine weitere Provokation gegen Polen zu sein.“ Und weiter: „Bei einem russischen Luftangriff auf die Ukraine in der Nacht auf Mittwoch war eine große Zahl an Drohnen in den Luftraum Polens und damit der Nato geflogen. Das Dach eines Hauses im ostpolnischen Ort Wyryki stürzte ein, verletzt wurde niemand. Die polnische Luftwaffe und andere Nato-Verbündete schossen einige der Flugkörper ab. Der Fall löste internationale Besorgnis aus. Seitdem erhält Polen verstärkte Unterstützung von Nato-Verbündeten. Die Sorge vor einer Ausweitung des Ukraine-Krieges wächst.“
Falschmeldungen wiederholt
Nicht erwähnt wurde, dass andere polnische Medien ganz anders berichteten, dass man noch gar nichts wusste, dass in einer Pressekonferenz etwas anderes gesagt wurde und dass das Dach des Hauses einstürzte, weil es von einer Nato-Rakete getroffen worden war. Es gibt bei den Online-Artikel von "Bild" mehr als einen Monat später keine Ergänzung, keine Richtigstellung, nichts. Und "Bild" ist mit dieser Darstellung nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Auch das Portal GMX, durch das sich Millionen Bürger morgens informieren, wenn sie ihr Mailprogramm starten, vermeldete am 22.9., also ganze sechs Tage nach der Richtigstellung der polnischen Behörden: „Vorfall mit russischen Drohnen - Tusk kündigt harte Reaktion auf Luftraumverletzungen an“. Kein Wort über den Ukrainer und die Weißrussin und deren jugendlichen Leichtsinn. Berichtet wird auch von CDU-Politikern bis hin zur UNO, die von einer „Serie von Vorfällen“ sprechen, die man nicht mehr hinnehmen werde.
Kein Wort in dem Artikel über die Ergebnisse der Nachforschungen der Polizei und die wahren Hintergründe. Dafür unter dem Artikel eine Umfrage unter den Lesern: „Haben Sie Sorge, dass sich der Russland-Ukraine-Konflikt auf andere Länder ausweiten könnte?“ – So geht Manipulation.
Totalversagen des Journalismus
Das Fallbeispiel der Drohne über dem Präsidentenpalast legt offen: Es handelt sich nicht nur in diesem, sondern auch in vielen anderen Fällen um ein Totalversagen des Journalismus und der Medien. Wenn man nur den deutschsprachigen Raum betrachtet, so ist es Tausenden von Journalisten nicht eingefallen, nachzurecherchieren, was da wirklich passierte. Obwohl die Herkunft der Drohnen unklar war, obwohl die Quelle anfangs nur ein einziger Post eines Politikers war. Dabei ist es heute ein leichtes, im Internet zu recherchieren, bei Behörden anzufragen und durch automatisierte Übersetzungstechnik gibt es de facto auch keine Sprachbarrieren mehr.
Es bleibt die Frage, warum es die Journalisten nicht interessiert hat: Haben sie alle darauf vergessen, nachzufragen? Hatten Sie keine Zeit? Oder passte es einfach zu gut ins Narrativ, was Donald Tusk behauptete? Ein Totalversagen ist es jedenfalls. Und für die Leser und Zuseher bleibt die Frage: Wenn Medien in so einem relativ einfach aufzuklärenden Fall nicht recherchieren, sondern desinformieren, was kann man ihnen dann noch glauben?♦