Ein Außenseiter erschüttert das Establishment
Vom Straßenauftritt ohne TV-Kameras zum Stichwahlsieg: Argentiniens Präsident Javier Milei nutzt Krise, Wut auf die „Kaste“ und die Wucht sozialer Medien – und macht Libertarismus zur Massenbotschaft. Sein Kurs wurde nun eindrücklich bestätigt. Für seinen Aufstieg gibt es gängige Erklärungen, allerdings sollte auch die Rolle der libertären Ideologie, die Milei geschickt vermarktet, nicht übersehen werden.
Plaza Holanda, Buenos Aires, 7. August 2021. Handylichter blinken, neben argentinischen Fahnen flattern gelbe Gadsden-Fahnen mit der Aufschrift „Don’t tread on me“ („Tritt nicht auf mich“), benannt nach dem amerikanischen Revolutionär Christopher Gadsden (1724–1805). Die frisch gegründete Partido Libertario veranstaltet hier ihren Wahlkampfauftakt.
Die geladenen Medien bleiben fern, keine TV-Kameras sind da. Doch 5000 Menschen kommen spontan. Ihre „libertad, libertad“-Sprechchöre hallen über den Platz, es herrscht Volksfeststimmung. Der Mann am Mikrofon ist der 50-jährige Ökonom Javier Gerardo Milei. In jungen Jahren war er Torwart und sang in einer Rockband, Mick Jagger war sein Vorbild. Jetzt aber steht er hier, um der Elite, dem Establishment, der politischen „Kaste“ den Kampf anzusagen. Auf sein dreifaches „Viva la libertad, carajo“ antwortet die Menge jedes Mal begeistert mit „¡viva!“.
Vom Ökonom zum Wutredner
Milei verkündet, mit diesem Tag beginne der Wiederaufbau Argentiniens – eines Landes, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch auf Augenhöhe mit Australien stand, dann aber von Generationen korrupter Politiker in den Niedergang getrieben wurde. Vor allem die Ära von Néstor und Cristina Kirchner ist für viele Argentinier zum Synonym für diesen Absturz geworden.
Für Außenstehende wirkt der Mann mit der wilden Frisur und der schwarzen Lederjacke zunächst exzentrisch. Doch im Land ist er längst bekannt: als TV-Ökonom, der mit Wutreden gegen die Politik Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die große Inflation von 1982 hatte sein Interesse für Ökonomie geweckt. Er wechselt mehrmals die Denkschule – vom Post-Keynesianer über den Neoklassiker bis hin zur Österreichischen Schule der Nationalökonomie, die ihn seit der Finanzkrise 2008 überzeugt. Seither popularisiert er deren Gedanken über Medienauftritte. Für ihn ist Ludwig von Mises der bedeutendste Ökonom überhaupt.
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