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Rohrleitung einer Industrieanlage
© Bild:123RF Bildagentur; Andrei Merkulov.

Europa ganz ohne Russland?

Bevor die EU endgültig alle Leitungen aus Russland abdreht, sollte sie sich dringend über die Folgen Gedanken machen. Und die sind gravierend. Denn Energielieferungen dreht man nicht einfach wie einen Wasserhahn auf und zu.

Marc H. Hall | Kommentar | 31. Januar 2025

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Die EU-Sanktionen gegen Russland sind befristet. In Kürze müssen die Laufzeiten verlängert werden. Vielleicht überlegt die EU, angesichts der zweiten Präsidentschaft von Donald Trump, wie es längerfristig auf dem europäischen Kontinent weitergehen soll? Denn für die EU gibt es selbstverständlich Alternativen zu Russland: für die zukünftige Energieversorgung, für den Zugang zu Rohstoffen und für den Erhalt der Industriestandorte. Über die damit verbundenen neuen Risiken sollte sich die EU allerdings bewusst sein.

USA optimal versorgt

Die besten Bedingungen für den Aufbau einer bedeutenden Industrienation und den Fortbestand im wachsenden Welthandel besitzen die Amerikaner auf ihrem Kontinent. Die USA waren stets im Stande, sich selbst mit Öl, Gas, Kohle und allen anderen wesentlichsten Rohstoffen zu versorgen. Natürlich unter der Hinzunahme von Kanada und dem Golf von Mexiko – und wenn es sein musste, auch von Chile und Venezuela. Mit neuen Fördertechnologien, wie dem Fracking von Schiefergestein zur Gasgewinnung, und Rohöl aus Ölsanden, erschließen sie aktuell ganz neue Ressourcen. Die USA brauchen kein Russland, kein Südafrika, kein Saudi-Arabien und keinen Iran für ihre Eigenversorgung.

Europa wäre auch so ein Kontinent, der seine Industrie gesichert bis zum Ende des 21. Jahrhunderts mit allen benötigten Rohstoffen versorgen könnte. Das geht allerdings nicht allein mit den 27 EU-Mitgliedern. Neben Großbritannien, Norwegen und der Schweiz braucht es zusätzlich die Türkei, die Russische Föderation, Kasachstan, Georgien, Aserbaidschan u.a. Anders formuliert: am besten alle derzeitigen Mitglieder des europäischen Fußballverbands (UEFA) plus Grönland und dem Vatikanstaat, die als einzige in Europa noch nicht mitkicken.

Eurasien reich an Rohstoffen

Die schiere Größe dieses europäisch-asiatischen Territoriums liefert alle benötigten Rohstoffe. Je näher und gut erschließbar diese Bodenschätze liegen, desto optimaler können sie eingesetzt und verwertet werden. Die Transportsysteme über die Binnenmeere, Wasserstraßen, Pipelines, Schienenwege und Autobahnen sind jedenfalls hoch entwickelt; das hilft bei der Erschließung und Verwendung. Einige Bodenschätze und Industrieprodukte, wie Kohle oder Ölprodukte, werden in der Zukunft möglicherweise weniger gebraucht, andere, wie Seltene Erden und Wasserstoff, werden an Bedeutung gewinnen. Länder und Industrien, die sich einer ambitionierten nachhaltigen Transformation ihrer Produktion verschreiben, brauchen einen Zugang zu günstigen Rohstoffen – und das möglichst schnell und einfach.

Lieferant Russland

Vor dem Russland-Ukrainekrieg 2022 und den daraufhin beschlossenen wirtschaftlichen Sanktionen der EU lieferte Russland nicht nur rund 40 Prozent des Erdgasbedarfs nach Europa, sondern auch vergleichbar signifikante Prozentanteile an Rohöl, Mineralölprodukte, Kohle, Uran, Erze, Eisen und Stahl, Gold und vieles mehr. Bei allen Mengen war die Tendenz steigend. Aus einem einfachen Grund: die Erschöpfung der traditionellen Reserven in West- und Mitteleuropa bei steigendem Bedarf.

Die bisherigen Konsequenzen aus den EU-Sanktionen bleiben diskutabel:

1. Die Sanktionen sind nicht für alle verpflichtend und werden verzögert umgesetzt.

2. Sanktionen werden – mit grenzenloser Fantasie – über Drittstaaten umgangen.

3. Versorgungen für den globalen Süden werden zu höheren Preisen von Europa gekapert.

4. Der Bedarf an Rohstoffen ist krisenbedingt – durch die schlechte wirtschaftliche Lage – erst einmal reduziert.

5. Die alternativen Einkäufe aus anderen Ländern sind nur kurzfristig gesichert.

Bevor die EU endgültig alle Leitungen aus Russland abdreht (oder sich in die Luft jagen lässt), muss sie sich dringend über die langfristigen Alternativen Gedanken machen. Anders, als bei der Wasserleitung im Haus, dreht man nicht munter den einen Hahn ab und den anderen bequem wieder auf. Die nachhaltige Versorgung von Industriestaaten mit Rohstoffen, Energie und Industrieprodukten ist deutlich komplexer.

Raffinierien fehlen

Ein Beispiel dafür: Die europäischen Erdölraffinerien.

Im Allgemeinen leisten Raffinerien für die Energieversorgung der Volkswirtschaften einen größeren Anteil als alle Kraftwerke zusammen. Strom deckt rund 20 Prozent des energetischen Endverbrauchs, Mineralölprodukte stehen für mehr als das Doppelte. Neben der Versorgung mit Brenn- und Treibstoffen, verarbeiten Raffinerien Rohöl zu hunderten Produkten: zu Schmier- und Werkstoffen, Düngemittel bis hin zu Medizinartikeln.

Was die westeuropäischen Raffinerien nicht schaffen, ist den Eigenbedarf an Diesel zu produzieren, dazu fehlen die entsprechenden Anlagen. Die russischen Raffinerien hingegen produzieren einen Dieselüberschuss. Bevor die EU ihren Verbrauch mittelfristig selbst produziert, muss sie vorher umfangreiche Zusatzinvestitionen in die bestehenden Raffinerien stecken. Die wirtschaftliche Abschreibung dieser Anlagen bis 2035, dem Zeitpunkt des geplanten Ausstiegs der EU aus Verbrennungsmotoren, wäre in diesem Fall ambitioniert.

123RF W. Khodsom web

Umbau der Raffinierien kostet Milliarden. © 123RF Bildagentur; W. Khodsom.

Noch schwieriger gestaltet sich der Umstieg der Raffinerien auf die neuen Rohölquellen. Die milliardenschweren Industrieanlagen sind meist an einen engen Korridor bestimmter Rohölsorten gebunden. Die osteuropäischen Raffinerien sind auf russisches Rohöl ausgerichtet und sie sind durch Pipelines direkt mit Russland verbunden. Eine alternative Versorgung löst einen tiefgreifenden Umbau der Betriebe und den Bau neuer Hafenanlagen und Pipelines aus. Das erfordert mehrjährige Planungsvorläufe und kostet Milliarden.

Keine Kapazitäten

Der größte Teil der Investitionen fällt allerdings bei der Neuerschließung der Rohstoffe selbst an. Auch hier funktioniert der triviale Vergleich mit der Wasserleitung nicht: Einfach mal stärker aufdrehen! Kein Investor in den USA, in Südafrika, Saudi-Arabien, Qatar, Australien oder im Iran hat bisher vorausschauend für einen möglichen zukünftigen Bedarf der EU die entsprechenden Kapazitäten für die benötigten Rohstoffe aufgebaut.

Und neue Förderländer sind auch nicht frei von politischen Risiken. Im letzten Jahrhundert kam es selten vor, dass Investoren aus diesen Ländern wieder hinausgeworfen wurden. Viel öfter zwangen die eigenen Regierungen oder Bündnispartner die Unternehmen zum Ausstieg aus den Investitionen, wie in Vietnam, Kuba, Südafrika, Iran, Irak, Libyen, Sudan, Syrien, Qatar, Russland, Taiwan, China. Denn was gestern noch gut war, kann morgen schon wieder böse sein. Und vice versa.

Marc H. Hall

Gastautor bei Libratus

Studien an der TU Wien, Oxford und SMU Dallas. Topmanager in der Energiewirtschaft (Vorstandsmitglied OMV AG und Wiener Stadtwerke AG, Wien; Senior Manager bei RWE AG, Essen; Geschäftsführer der Bayerngas GmbH, München). Ehem. Vorstandsmitglied im deutschen Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) und Chairman in der International Gas Union (IGU). Lebt als Autor und Berater für politische und wirtschaftliche Energie- und Klimafragen in Wien.

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