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Ein Wegweiser aus Holz in den Nationalfarben von Rumanien an einen Baumstumpf neben einer leeren Strasse
© Gustavo Frazao  123RF Bildagentur

Gastarbeiter sind die neuen Migranten: Ein Lokalaugenschein in Rumänien

Seit 1990, dem Ende der kommunistischen Diktatur, ist Rumäniens Bevölkerung um gut vier Millionen Menschen geschrumpft. Viele sind ausgewandert, um anderswo zu leben und zu arbeiten. Menschen aus Südostasien sollen die Lücke als legale Gastarbeiter füllen. Die Rechnung geht jedoch nicht auf, denn viele verschwinden ins reichere Westeuropa.

Boris Kálnoky | Politik | 09. September 2024

Die Stadt Cluj Napoca hat 500.000 Einwohner und liegt im Westen Siebenbürgens, mithin in Rumänien. Man ist stolz auf die lange, multikulturelle Geschichte: Auf Deutsch heißt die Stadt Klausenburg, auf ungarisch Kolozsvár.

Nun wird sie, und ganz Rumänien, noch viel multikultureller. 100.000 Arbeitserlaubnisse für Nicht-EU-Bürger durften 2022 in Rumänien vergeben werden. Ebenso viele im Jahr 2023. Tatsächlich waren es dann weniger, aber Experten erwarten für 2024 einen Anstieg der registrierten Gastarbeiter auf rund 140.000. Die meisten kommen aus Südostasien, vor allem aus Nepal, Sri Lanka und Bangladesch. Trotz der hohen Zahl an Zuwanderern sind es lange nicht genug, um Rumäniens Bevölkerungsschwund auszugleichen. Seit 1990 schrumpfte die Bevölkerung von 23 auf 19 Millionen Menschen.     

Thari kommt aus Sri Lanka, er mag Rumänien. „Viel besser als Dubai”, sagt er. Dort hat er sechs Jahre lang gearbeitet, in der Gastronomie. Das Geld war gut, aber das war auch schon alles. Rumänien hingegen! Viel leichter, Papiere zu bekommen, und vor allem: „Hier lassen sie nach fünf Jahren die Familie nachziehen”. Das Leben ist schön, sagt er, „die Menschen so offen, viel offener als in meiner Heimat Sri Lanka.” Er verdient so viel wie in Dubai, „aber hier ist alles viel billiger.” 

Thari ist eine Erfolgsgeschichte für Migranten. Er begann vor einem Jahr als Kassierer im Nobelrestaurant „Marhaba” in Cluj Napoca. Nach drei Monaten avancierte er zum Kellner, dann zum Manager. Daheim, in Sri Lanka, hatte er Hotelmanagement studiert. Jetzt leitet er bereits zwei Restaurants der Marhaba-Kette. Sechs weitere sollen bald öffnen. „Wir warten nur noch auf das Personal”, sagt er. Rund 150 Mitarbeiter sollen kommen, „alle aus Sri Lanka und Nepal”. Auch im Marhaba, wo wir uns unterhalten, sind fast alle der 30 Mitarbeiter aus Sri Lanka. Eine, Zara, ist aus Algerien. Sie studiert hier, Pharmazie. Nicht billig, aber ihr Vater ist daheim Bauunternehmer und finanziert die Studiengebühr von 7000 Euro. Auch Zara will in Rumänien bleiben und hier arbeiten. Auch sie findet die Rumänen „so offen”.  Es gibt auch einen Rumänen im Team, einen einzigen – Tudor. Er ist Kellner, sagt er bescheiden. Aber eigentlich managt er auch. „Wenn ich nicht da bin, leitet er den Laden”, sagt Thari. 

Rumänien als Zwischenstation

Mit illegalen Migranten hat man weniger ein Problem. Die kommen zwar auch in großer Zahl, denn Rumänien ist fester Bestandteil der „Balkanroute”.   Aber die Illegalen bleiben nicht, sie reisen meist weiter in reichere Länder. Natürlich kamen seit 2022 auch viele ukrainische Flüchtlinge, aber auch die sind meist eher Durchreisende, in Richtung Deutschland oder Österreich.

Für die neuen Gastarbeiter ist Rumänien das verheißene Land schlechthin. „Wir in Rumänien” heißt eine Facebook-Gruppe für Menschen aus Sri Lanka, die in Rumänien leben oder dorthin wollen. Sie hat 170.000 Mitglieder. „Ich glaube, allein dieses Jahr werden aus Sri Lanka gut 20.000 bis 30.000 Menschen kommen”, meint Thari. 

Was hat Rumänien, was andere nicht haben? Nun, dank der hohen jährlichen Quote für Arbeitserlaubnisse bekommt man diese relativ leicht, viel leichter als in fast jedem anderen EU-Land. Und danach lebt man eben in der EU. Legal, mit Aufenthaltserlaubnis. Wer ein bisschen Geduld hat, kann irgendwann auch die Familie nachholen.

Doch die meisten wollen dennoch nicht bleiben, sondern die neuen Gastarbeiter streben von Rumänien aus in andere EU-Länder. Aber da Rumänien noch nicht zur Schengen-Zone gehört, ist das nicht so einfach. „Italien ist sehr beliebt”, sagt Thari.  Aber auf Dauer „ist das Leben dort zu teuer, und es ist schwerer, dort Papiere zu bekommen”. Kürzlich erst wurden elf Gastarbeiter aus Nepal, Bangladesch und Pakistan von Klausenburg in ihre Heimatländer abgeschoben. Sie waren wie Thari legal nach Rumänien gekommen, hatten dann aber versucht, illegal in andere EU-Länder weiterzureisen.

 

 

Ein lukratives Geschäftsmodell

Das System ist vor allem für die Arbeitsvermittler in den Ursprungsländern und für Unternehmer in den Zielländern vorteilhaft. „Wir mussten pro Kopf 3000 Dollar an die Agentur zahlen”, erzählt Thari. Dafür erledigte die Vermittlungsagentur Visum, Arbeitserlaubnis, Aufenthaltsgenehmigung und Reise. Die Gastarbeiter hoffen natürlich, die investierten 3000 Dollar durch ihre Arbeit zurückzuverdienen. Aber für die Unternehmer sind diese Arbeitskräfte vor allem deswegen attraktiv, weil sie wenig kosten. Dennoch: „Es ist nicht schlecht, es bleibt genug, um meiner Frau in Sri Lanka Geld schicken zu können”, sagt Thari.

Nicht alle sind so glücklich. Die Medien sind voll von Berichten über bittere Gastarbeiter-Schicksale. Mehrheitlich aber scheint es für alle Beteiligten ein guter oder zumindest akzeptabler Deal zu sein.

Überall in Ostmitteleuropa ist es der neue Weg, die Wirtschaft am Laufen zu halten. Länder, die viele ihrer Einwohner durch Auswanderung in reichere Gefilde verloren haben, aber auch keine illegalen Migranten wollen, behelfen sich mit legalen Gastarbeitern. Dabei wiegen sie sich in dem Glauben, die Kontrolle behalten zu können: Es genügt, bei Bedarf die Regeln zu ändern oder die Arbeitserlaubnis nicht zu verlängern, damit diese Menschen in ihre Länder zurückkehren.

Es erinnert ein wenig an die Annahmen, die bei deutschen Behörden vorherrschten, als sie in den späten 50er Jahren anfingen, in der Türkei, Italien und Griechenland Gastarbeiter anzuwerben.

Mehr als 100.000 Gastarbeiter sind in der Slowakei registriert, 120.000 in Ungarn. Sogar in Albanien werden sie angeworben, sagte mir kürzlich Albaniens „Kronprinz“ (wenn es denn noch eine Krone gäbe), Leka II.

Warten auf Schengen-Erweiterung

Aber das beliebteste Land, gemessen daran, wie viele Gastarbeiter einreisen, ist dennoch Rumänien. Dafür gib es einen nicht offiziell genannten Grund: Irgendwann wird Rumänien zur Schengenzone gehören. Dann ist die Bahn frei gen Westen.

Aber so lange wollen viele nicht warten. Laut einer Analyse des Wirtschaftsportals „Economie Hotnews“ vom Juni 2023 waren bis dahin 35.000 Bengalen eingereist, aber nur 1500 hielten sich nachweisbar im Land auf. Bei näherem Hinsehen fällt auf, dass Rumänien für 2023 zwar eine Quote von 100.000 Arbeitsgenehmigungen beschloss, aber – nach einem Bericht des Wirtschaftsportals economica.net - nur 50.000 tatsächlich einreisten, und die Zahl der registrierten Gastarbeiter in jenem Jahr nur um 23.000 stieg. Irgendwohin müssen da 27.000 eingereiste Gastarbeiter offenbar „verschwunden“ sein. 

Illegale Migration mag die Schlagzeilen beherrschen – aber legale Migration ist in wachsendem Ausmaße ein entscheidendes Element der Einwanderung nach Europa.

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Boris Kálnoky

Autor bei Libratus