Zum Hauptinhalt springen
Diskussion Diplomatische Akademie Wien Libratus
Das Podium bei der Diskussionsveranstaltung und Präsentation von Libratus an der Diplomatischen Akademie Wien: Der ehem. Präsident Emil Brix, Petr Drulák, Bence Bauer und Wendelin Ettmayer (v.l.n.r.) © alle Libratus.

Gespaltenes Europa – wer ist schuld?

Anlässlich der Präsentation der Erstausgabe des Libratus Magazins in Print kam es zu hitzigen Debatten zwischen Vertretern Ungarns, Tschechiens und Österreichs. Es zeigte sich: Die Spaltung geht quer durch jedes einzelne Land – und dennoch kann man respektvoll miteinander umgehen. Ein Lehrstück eines offenen Diskurses und des Austauschs kontroversieller Standpunkte.

Gudula Walterskirchen | Politik | 24. Oktober 2025
Mitschnitt der Diskussion "Gespaltenes Europa"

„Wir haben keine gespaltene EU, wir haben 27 gespaltene Länder“, postulierte gleich zu Beginn der tschechische Politologe Petr Drulák. Damit gab er die Richtung vor im übervollen Saal in der ehrwürdigen Diplomatischen Akademie am 20. Oktober in Wien. Das Libratus Magazin und die Akademie hatten gemeinsam zu einem denkwürdigen Abend geladen.

Eigentlich, so die stellvertretende Direktorin der Akademie, Martina Schubert, denke man beim gespaltenen Europa an die Zeit des Eisernen Vorhangs, die ja nun Geschichte sei. Diese habe nun eine andere Bedeutung, nämlich die gesellschaftliche und politische Spaltung. Die Haltung Ungarns, der Slowakei und Tschechiens zu den westlichen Partnern divergiere immer mehr.

libratus 050 web

Wie kam es, dass die Euphorie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, dass die Idee des vereinten Europas – Friede, Wohlstand, offene Grenzen und gute Nachbarschaft – verflogen sind? Einzelne Mitgliedsländer werden sanktioniert, der Spionage verdächtigt, und der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter fordert gar den Ausschluss eines Mitgliedslandes, nämlich Ungarns. Wer ist daran schuld?

Es sei nicht gelungen, die Versprechen eines Aufbaus gemeinsamer Interessen und Werte einzulösen, meint der ehemalige Direktor der Diplomatischen Akademie, Emil Brix: "Wir haben zwar erweitert, aber die Strukturen sind nach wie vor jene Westeuropas. Die östlichen Länder wurden kaum einbezogen und angepasst. Schuld sind also die Westeuropäer." Denn die Mittel- und Osteuropäer hätten es in kurzer Zeit einigermaßen geschafft, demokratische Strukturen aufzubauen. „Ich kann daher nachvollziehen, dass einige das Gefühl haben, sie seien Mitglieder zweiter Klasse.“ Dies müsse man überwinden und darum funktioniere es nicht. Von Sanktionierungen halte er wenig, man müsse einander vielmehr überzeugen.

DA Diskussion Publikum webDer Saal der Diplomatischen Akademie Wien war übervoll, das Publikum interessiert und engagiert. ©Libratus.

In Prag sieht man das anders. Petr Drulák beobachtet, dass die EU an sich im jüngsten Wahlkampf in Tschechien kaum thematisiert wurde, jedoch EU-bezogene Themen eine sehr große Rolle spielten. "Vor allem die Ukraine und der Krieg, nicht so sehr die Migration, aber das kommt noch." Vom wahrscheinlich künftigen Premierminister Andrej Babiš könne man keine große Änderung erwarten, er werde nicht aus der EU austreten und keine großen Konflikte mit Brüssel austragen. „Leider", bedauert Drulák, "denn wir brauchen eine Regierung, die sich mit Brüssel heftig streitet.“ Dies brachte ihm lebhaften Applaus des Publikums ein. Und man brauche eine wirklichkeitsbezogene Politik. „Es gibt eine Spaltung in Europa zwischen jenen, die ideologisch denken, und jenen, die wirklichkeitsbezogen denken“, so Drulák. Die Spaltung spiele sich nicht so sehr ab, dass Orbán auf der einen Seite und Macron auf der anderen stehe, sondern gehe mitten durch die Gesellschaften.

Bence Bauer, Direktor am Mathias Corvinus Collegium in Budapest, erinnerte an den 23. Oktober als Jahrestag des Kampfes der Ungarn gegen die sowjetischen Besatzer im Jahr 1956. Damals hätte Österreich Zigtausende Ungarn aufgenommen, und dann 1989 die DDR-Bürger, und dafür wolle er danken. In Ungarn sei man sehr an Europa interessiert und wolle einen realitätsbezogenen Blick. „Nicht immer, wenn man an Brüssel etwas kritisiert, ist man gegen Europa.“ Wichtig sei Ungarn vor allem das Thema Frieden, keine Grenzen, wie etwa das Erasmus-Studium im Ausland. Die EU-Kommission habe Ungarn dennoch das Erasmus-Programm gestrichen.

Die Politik versuche, den EU-Bürgern aufgrund von Ideologien etwas weiszumachen, und auch die Medien trügen dazu bei. „Ein Politiker aus Österreich hat mich gefragt, warum die jungen Ungarn in Ungarn blieben, denn es herrsche dort doch eine Diktatur.“ An Ungarn werde viel Kritik geübt, moniert Bauer, diese verrate aber mitunter mehr über jene, die kritisieren, als über die tatsächlichen Verhältnisse im Land. 

 "Schönfärberei"

Emil Brix ortet in dieser Darstellung eine „Schönfärberei“, die auch Ungarn nichts nütze. Er weist auf rechtsstaatliche Probleme in Ungarn hin, etwa im Bereich Meinungsfreiheit, Niederlassung von Unternehmen und Migration. Bauer konterte mit dem Vorwurf, dass es in der EU selbst um den Rechtsstaat schlecht bestellt sei. Er führte den „Konditionalitäts-Mechanismus“ an: durch diesen müsse nachgewiesen werden, EU-Mittel zweckmäßig zu verwenden, sonst würden sie gestrichen. Dies sei in Ungarn geschehen.

Messen nach 27erlei Maß

Man habe darauf hin alle Gesetze, die von der EU kritisiert wurden, im Jahr 2022 geändert und alle Anforderungen erfüllt. „Dann kamen zehn neue dazu, auch diese wurden angepasst, und dann sagte Brüssel: Jetzt warten wir mal ab.“ In Polen hingegen sei eine Brüssel genehme Regierung an die Macht gekommen, dort habe man gar nichts geändert, und dennoch seien 60 Milliarden Euro für Donald Tusk freigemacht worden. „Das ist nicht nur ein Messen nach zweierlei Maß, sondern nach 27erlei Maß, und das ist sehr traurig.“

Für Tschechien erwartet Drulák keine Probleme aus Brüssel, obwohl Babiš mit seiner Partei im EU-Parlament in einer Fraktion mit Orbáns Fidesz und den „Patrioten für Europa“ sitzt. Dieser sei vorsichtig und werde sich nicht kompromittieren, das habe seine letzte Amtszeit gezeigt. Babiš könne in Tschechien selbst sehr spaltend wirken, aber nicht in der EU.

libratus 045 web

Bei aller Kritik der übrigen Mitgliedsstaaten an Ungarn, wurde ausgerechnet Budapest als Treffpunkt von Russlands Präsident Putin und US-Präsident Trump für Friedensgespräche kolportiert. Früher wäre der logische Austragungsort für ein Treffen wohl das neutrale Wien gewesen, als Sitz der UNO und vor allem der KSZE, die für Konflikte in Europa eigentlich zuständig wäre. Heute wird ein Nato-Land Schauplatz internationaler Politik und Diplomatie. Was ist da seit Kreisky und Mock passiert?

Frieden oder Krieg?

„Europa war historisch vielfach gespalten. Doch die entscheidende Frage ist: Wird diese Spaltung mit Kooperation und Frieden oder mit Krieg überwunden.“ Wendelin Ettmayer, ehemaliger Nationalratsabgeordneter und Botschafter beim Europarat, kritisiert in diesem Zusammenhang den Einheitsbrei der Massenmedien. Österreich stehe auch deshalb nicht mehr so im Zentrum der Diplomatie, weil man sich der gesteuerten Massenmeinung angeschlossen habe. Er ortet eine andauernde Dämonisierung und Hetze, eine andauernde Propaganda in Richtung Krieg seitens der Europäer und eine Politik, die jeden Kompromiss ausschließt. Somit führe man diese Spaltung weiter.

libratus 106 web

Daran schloss Petr Drulák an: Wenn man Spaltung mit Frieden überwinden wolle, dann bedeute das mit Diplomatie. Im Hinblick auf die Ukraine bedeute das: „Europa hat die Diplomatie aufgegeben, und Russland hat mit Krieg geantwortet“. Man könne die Spaltung innerhalb der EU, jene zwischen Ideologen und Wirklichkeitsbezogenen, entweder demokratisch oder undemokratisch überwinden. „Wenn ich in den letzten Monaten beobachte, was in Rumänien, in Moldawien passiert ist, dann habe ich große Angst, dass die Brüsseler Elite den undemokratischen Weg gewählt hat.“ In Rumänien wurde der erste Durchgang der Präsidentenwahl vom Gericht auf Druck der EU annulliert, weil man russische Einflussnahme vermutete. Diese stellte sich dann als haltlos heraus. (Näheres entnehmen Sie der Berichterstattung in Libratus.)

Es gäbe, so der Vorwurf Druláks, einen Präsidentschaftskandidat, der falsch beschuldigt wurde. Jetzt erwarte ihn wahrscheinlich 20 Jahre Gefängnis. „Das ist die Brüsseler Demokratie!“ Und in Moldawien hätten jene, die in Italien leben, frei wählen können, jene, die in Russland leben, hätten nur eingeschränkte Möglichkeiten gehabt, ihre Stimme abzugeben.

DA Diskussion Heft web

Emil Brix erhob darauf energischen Einspruch. Europa sei stolz darauf, dass überall freie Wahlen abgehalten würden. In einem Rechtsstaat würden die Gerichte die Wahlen kontrollieren, und genau dies sei in Rumänien passiert. „Der Vorwurf, dass in diesen beiden Ländern, in denen freie Wahlen stattgefunden haben, dies ein Beweis sei für ein undemokratisches Europa, kann ich mir nicht vorstellen.“

Dass die Westeuropäer dafür seien, dass die Proeuropäer dort gewonnen hätten, leugne er nicht. „Ich bin selbst nach Chisinau gefahren und habe die proeuropäische Präsidentenpartei unterstützt.“ Es sei eben so, dass wir nicht mehr im Frieden und noch nicht im Krieg seien. Wie komme man nun zum Frieden? „Ich bin überzeugt, dass wir nach diesem Krieg gut daran tun, gemeinsam mit Russland eine Friedensarchitektur zu bauen.“

Österreich hat sich als Austragungsort von Friedensgesprächen angeboten und gleichzeitig den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Putin mitgetragen. Wie passt das zusammen? Brix betont, Österreich sei in der Frage des Ukraine-Kriegs nicht neutral. Die Regierung habe sich darauf festgelegt. „Ich bin froh, wenn die Gespräche in Ungarn stattfinden. Wichtig ist aber, dass sie stattfinden und nicht wo.“♦

Die gesamte Diskussion finden Sie als Audio zum Nachhören bei diesem Artikel.

Zum Weiterlesen:

Auf "Libratus on air" auf Radio Klassik Stephansdom erfahren Sie mehr über die Veranstaltung und das neue Print-Heft des Libratus Magazins. Klicken Sie einfach auf das Symbol des Senders.

Gudula Walterskirchen

Herausgeberin Libratus
Mitschnitt der Diskussion "Gespaltenes Europa"