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Flagge der Ukraine, davor Hände mit Friedenstaube
© Bild:123RF Bildagentur; actiongp.

Gibt es einen „gerechten“ Frieden?

Ein Friede in der Ukraine könne nur dann gemacht werden, wenn dieser gerecht sei. Doch was ist ein „gerechter“ Friede? Ist so etwas überhaupt realistisch? Und wie wurden in der Geschichte Friedensschlüsse gemacht?

Gudula Walterskirchen | Politik | 23. Mai 2025

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Es war eine der Bitten, die der neue Papst Leo XIV. bei seiner Amtseinführung auf dem Petersplatz in Rom vor 250.000 Gläubigen und zahlreichen Staatsoberhäuptern aussprach: Er betete neben anderen Kriegsschauplätzen und Katastrophen auch für einen „gerechten Frieden“ in der Ukraine.

Neben den „westlichen Werten“, die, so die offizielle Lesart, in der Ukraine verteidigt werden, zählt das Diktum vom „gerechten Frieden“ zu den auch von Politikern zwar ständig wiederholten, aber nicht hinterfragten Standardsätzen im öffentlichen Diskurs. Bereits die Frage, was „Gerechtigkeit“ ist und ob und wie diese auf Erden herzustellen sei, füllte ganze Bibliotheken – und führte zu massiven religiösen und ideologischen Verwerfungen. Doch auch wenn man die Frage nicht philosophisch oder theologisch betrachtet, so stellen sich mehr Fragen als Antworten.

Für wen gerecht?

Eine zentrale Frage ist, für wen ein Friede gerecht ist. Im Fall der Ukraine postulierte Präsident Wolodymyr Selenskyj, dass Russland das gesamte zuvor ukrainische Gebiet inklusive der Krim zurückgeben und die Schäden bezahlen müsse. Das erscheint auf den ersten Blick als logisch und legitim, bei näherer Betrachtung jedoch als leere Formel. 

Abgesehen davon, dass es nicht nur um wirtschaftliche Schäden und den Wiederaufbau geht – wie sollen die Hunderttausenden Menschenleben entschädigt werden? Für einen Teil der Bevölkerung wird es – ganz gleich wie es ausgeht – kein gerechter Friede sein: Sollte der derzeit von Russland besetzte Teil der Ostukraine und die Krim bei Russland bleiben, wird es für die Ukrainer dort, die sich ukrainisch definieren, schwierig zu bleiben, womöglich werden sie vertrieben.

Hälfte von Krim deportieren

Umgekehrt, sollten die Krim und die Ostukraine wieder zurückgegeben oder geräumt und wieder der Ukraine zugeschlagen werden, wird es für die ethnischen Russen bzw. russischsprachigen Bewohner dort schwierig, zu bleiben. Auch sie werden wohl gehen oder vertrieben werden. Das haben offizielle Stellen der ukrainischen Regierung bereits angekündigt, wie etwa Tamila Tasheva, Selenskiys Vertreterin auf der Krim: Nach einer Befreiung würden 200.000 Bewohner wegen Kollaboration angeklagt und mindestens eine weitere halbe Million würde deportiert. Mehr als eine Million Menschen, etwa die Hälfte der Bewohner, würden die Krim „sofort“ verlassen müssen.

Selbstverteidigung auf der Krim März 2014 web

Selbstverteidigung auf der Krim im März 2014. © CommonsWikimedia.

Die Geflüchteten werden in diesem Fall ebenfalls nicht oder nur spärlich zurückkehren, und der gegenseitige Hass durch das Kriegsgeschehen ist groß.Ein „gerechter“ Friede wird es also zumindest für einen Teil der Bewohner in den umkämpften Gebieten keinesfalls sein – und dennoch wünschen sich alle den Frieden.

Reparationen die Regel

Aber werden wenigstens die Schäden „gerecht“ beseitigt? Völkerrechtlich gesehen sind Reparationen Zahlungen eines Staates, um eine Verletzung des Völkerrechts zu kompensieren. Reparationsforderungen sind in der Geschichte nicht unüblich, ja die Regel. Allerdings hat sie meist der Sieger dem Besiegten auferlegt, aber nicht nur. So etwa haben die USA und die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur Deutschland und Österreich als Verliererstaaten Reparationszahlungen auferlegt. Dies war an sich fragwürdig, denn in der Moskauer Deklaration von 1943 wurde definitiv festgehalten, dass Österreich nicht Aggressor, sondern der Staat als Opfer der Aggression NS-Deutschlands betrachtet werde. Dennoch zählte man es zu den Verlierern und es musste zahlen.

Zahlen musste aber etwa auch Großbritannien, obwohl es Alliierter der USA und nachweislich Opfer und nicht Aggressor in diesem Krieg war. Die Schulden wurden zwar letztlich erlassen, doch die letzte Rate der der Zinsen an die USA und Kanada leistete man erst im Jahr 2006 für die Kosten der Befreiung. Gerecht war das sicher nicht.

USA zahlten nie

Umgekehrt zahlten etwa die USA nie Reparationen an den Irak, den sie 2003 völkerrechtswidrig unter einem falschen Vorwand angegriffen hatten. Und die USA oder Armeeangehörige wurden auch nie dafür von einem internationalen Gericht verurteilt. Die USA erkennen den Internationalen Gerichtshof übrigens gar nicht an. Der Stärkere diktiert die Bedingungen, seien sie nun gerecht oder nicht.

Es gilt das alte Diktum, nach dem bekanntlich die Sieger immer Recht haben oder besser gesagt: das Recht für sich beanspruchen.

Bemerkenswert im Hinblick auf die aktuellen Friedensbemühungen ist ein Blick auf die Situation während und nach dem Zweiten Weltkrieg: Nach dem Bruch mit Hitler-Deutschland wechselte die UdSSR bekanntlich die Seiten. Die USA, England und Frankreich machten also als Alliierte gemeinsame Sache mit Stalin, der ein brutaler Diktator und totalitärer Herrscher eines kommunistischen Systems war – also nicht unbedingt ein Repräsentant der Werte des freien Westens, die damals die USA schon proklamierten. Stalin saß gleichberechtigt mit am Tisch, man würgte die Vorbehalte hinunter und gab der Diplomatie den Vorzug.

Lemberg nicht zurückgegeben

Die Sowjetunion zählte zu den Aggressoren, weil Stalin durch seinen Pakt mit Adolf Hitler den Überfall auf Polen erst möglich gemacht hatte. Und die UdSSR hatte sich selbst ein schönes Stück vom Kuchen gesichert, Stichwort Teilung Polens. Dennoch musste die Stalin den geraubten Teil Polens um Lemberg nicht abtreten, sondern dieser wurde der UdSSR zugeschlagen und gehört daher heute zur Ukraine.

War das gerecht?

Auch die Ukraine musste das Gebiet nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht an Polen zurückgeben, sondern durfte die „Beute“ behalten. Dasselbe gilt für ehemals deutsche Gebiete wie Pommern, Schlesien, Ost-Brandenburg und Südost-Preußen, die alle heute polnisch sind und wo die deutschsprachige Bevölkerung vertrieben wurde; Sowie ostungarische Gebiete, die dann der UdSSR und später der Ukraine einverleibt wurden.

War das gerecht? Wo doch Stalin ein millionenfacher Mörder war?

Nach dem Krieg kam es zu Kriegsverbrecher-Prozessen gegen die schlimmsten Nazi-Schergen. Ausgenommen jene, die die USA, etwa als Wissenschaftler, gebrauchen konnte und die ungeschoren davonkamen. War das gerecht? Und war es gerecht, dass die Kriegsverbrechen auf Seiten der Sieger nicht geahndet, ja nicht einmal thematisiert wurden? Wie etwa das Flächenbombardement von Wohngebieten in Städten, bei dem Zigtausende Alte, Frauen und Kinder ums Leben kamen? Auch die Tiefflieger, die gezielt Jagd auf Zivilisten und sogar Kinder machten wurden nie belangt. War das gerecht?

Kein echter Friede

Und dann gibt es zahlreiche Kriege, in denen es gar nie einen echten Friedensschluss gab. In Korea hatte sich in den 1950er Jahren die Frontlinie festgefahren, es gab keine Möglichkeit der USA und seiner Verbündeten, die Nordkoreaner zu besiegen. Es herrscht dort ein labiler Waffenstillstand, die Grenze verläuft an der damaligen Frontlinie. Nordkoreas kommunistische Diktatoren, besonders der aktuelle Kim Jong-un mit seinen Atomwaffen, sind eine ständige Bedrohung für den Weltfrieden. Obwohl ein „gerechter“ Friede unmöglich ist, gab man sich mit einem Waffenstillstand und einer ungerechten Grenze zufrieden.

Geht man noch weiter zurück zum Ersten Weltkrieg, so gab es auch 1918 keinen „gerechten“ Frieden. Es war in den Augen der unterlegenen Mächte, allen voran Deutschlands, ein „Diktatfriede“. Der Unterlegene wurde gedemütigt, indem Deutschland an den Verhandlungen in Versailles nicht einmal teilnehmen durfte (wie auch Österreich in St. Germain). Gebietsabtretungen waren ebenfalls die Folge der Niederlage, besonders traf es Österreich-Ungarn. Man argumentierte mit Wilsons 14 Punkten und dem Selbstbestimmungsrecht, in der Praxis sah dies aber mitunter anders aus, wie etliche gefälschte Abstimmungen, wie etwa jene von Ödenburg/Sopron, zeigten.

Verlierer hat keine Rechte

Doch der Verlierer hatte keine Rechte und auf keine Gerechtigkeit zu hoffen. Also auch kein gerechter Friede. Auch wäre Deutschland wirtschaftlich völlig ruiniert worden, da die Forderungen vor allem Frankreichs unerfüllbar waren, was den Keim für den künftigen Konflikt beinhaltete.

Wegen der Weltwirtschaftskrise und Zahlungsunfähigkeit der Verliererstaaten waren die Schulden dann nicht einbringbar und wurden letztlich erlassen, nur die Zinsen mussten bezahlt werden. Die letzte Rate zahlte Deutschland 2010. Die letzte Rate der Reparationen für den Zweiten Weltkrieg wurden 1988 beglichen.

Der britische Ökonom John Maynard Keynes schrieb 1919 vorausblickend: „Wenn wir bewusst auf die Verarmung Mitteleuropas hinarbeiten, dann wird – das wage ich vorauszusagen – die Rache nicht auf sich warten lassen.“ Er behielt leider recht.

Baldige Normalisierung

Seit damals weiß man, dass es politisch unklug ist, den Besiegten zu sehr zu demütigen und keine Hoffnung mehr zu lassen auf eine Normalisierung der Beziehungen. Daraus hatten vor allem die USA gelernt und es atmosphärisch nach dem Zweiten Weltkrieg besser gemacht, indem sie alles daransetzten, die Bevölkerung für sich zu gewinnen.

Hätte man in all den Kriegen und Konflikten im 20. Jahrhundert den Maßstab angelegt, der heute im Ukraine-Krieg angelegt wird, dass es nämlich nur einen gerechten Frieden geben kann oder gar keinen, dann wäre der Kontinent nicht wieder aufgeblüht, sondern Europa immer noch im latenten Kriegszustand und nicht in einer Union organisiert.

Präventivkrieg ist Verbrechen

Übrigens: Einen Präventivkrieg gegen ein Land zu führen, um eine mögliche künftige Gefahr zu bannen, gilt seit dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal von 1943 als das „höchste internationale Verbrechen“. Somit ist dies keinesfalls ein „gerechter“ Krieg.

Letztlich muss jeder Krieg mit einem Frieden oder zumindest mit dem Schweigen der Waffen enden. Ob dies aus Einsicht, aus Erschöpfung, aus Geldmangel oder wie im Russland des Ersten Weltkriegs durch eine innere Revolution geschieht. Kriege sollten wenn möglich vermieden werden und wenn sie einmal begonnen wurden, so rasch wie möglich beendet werden. Friedensverhandlungen nach einem Waffenstillstand können dann oft Jahre dauern.

Somit sollte man sich die Weisheit des römischen Philosophen Cicero vergegenwärtigen: Der ungerechteste Friede ist immer noch besser als der gerechteste Krieg.♦

Zum Weiterlesen:

Jörn Leonhard: „Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923“. C. H. Beck, München.

Marcus M. Payk, Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg, München 2018. 

 

Mehr dazu bei "Libratus on air" bei Radio Klassik am Samstag, den 24.5. um 16 Uhr, 27.5. um 19 Uhr oder mit diesem Link.

Gudula Walterskirchen

Herausgeberin Libratus

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