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Ukrainische Nationalflagge mit Asow-Emblem
Ukrainische Flagge mit Asow-Emblem © Commons Wikimedia.

Historische Kurzschlüsse

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Nationalsozialismus zu einem metahistorischen Tabu. Ein Ereignis, das nach Belieben verwendet werden kann. Der neue Krieg in Europa nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat die alten Gespenster der schrecklichen Geschichte Europas wieder zum Leben erweckt. (Deutsch) (Italiano)

Manfred Manera | Politik | 25. Oktober 2024

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In diesem Konflikt stellen sich die beiden Kriegsparteien und ihre Verbündeten gegenseitig bloß, machen einander zu Monstern. Denn nur so kann man Menschen in den Krieg treiben. Die Russen beschuldigen den ukrainischen Staat, Nazis zu sein, während die Ukrainer und ihre westlichen Verbündeten versuchen, Russland zu dämonisieren. Russlands Präsident Wladimir Putin, der noch vor wenigen Jahren in den Salons und auf Konferenzen des Westens willkommen war, ist zu einem neuen Hitler geworden, dem Unhold, der ukrainische Kinder entführt. In der Tat lastet die Anklage des Haager Gerichtshofs, 16.000 ukrainische Kinder deportiert zu haben, auf ihm. Doch als am 17. April 2024 in der ukrainischen Presse die Nachricht kam, dass 161 der vermissten Kinder von der deutschen Polizei wohlbehalten in Deutschland und nicht in Russland aufgefunden worden waren, wurde die Geschichte in der westlichen Presse begraben.

 Die russischen Vorwürfe gegen ukrainische Nationalisten wiederum sind sicherlich propagandistisch, aber sie haben reale Grundlagen, die in westlichen Medien heruntergespielt werden und zu offenkundigen Widersprüchen führen. In der westlichen Presse wird etwa berichtet, dass die Mitglieder des Asow-Bataillons, die früher einhellig als Neonazi-Gruppierung betrachtet wurden, ihre Abende zwischen einem Angriff und dem nächsten mit der Lektüre von Kant verbringen würden.

Paradox ist auch die Nachricht, dass die Krawalle, die im August 2023 in englischen Städten nach der Ermordung von drei kleinen Mädchen ausbrachen, durch ein Handbuch über Vandalismus einer in Russland verbotenen russisch-ukrainischen Neonazi-Gruppe „Sparrow Crew“ inspiriert wurden, die sich jetzt an der von England unterstützten Mobilisierung gegen Russland beteiligt.

Skandal in Kanada

Der Höhepunkt des historischen Kurzschlusses wurde jedoch beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Zelensky im kanadischen Parlament in Ottawa am 22. September 2023 erreicht: Als die gesamte Versammlung auf Einladung des Parlamentspräsidenten Anthony Rota dem ehemaligen SS-Mann der Division Galizien, Jaroslaw Hunka, applaudierte. Zelensky, der jüdischer Herkunft ist, applaudierte jemandem, der zu der Division gehörte, die für die Ausrottung seiner Vorfahren verantwortlich gemacht wurde. Nach dem Eklat trat Rota zurück.

Nun ist die Diskussion über Rechtsextremisten in der Ukraine in der Polit-Landschaft des Landes selbst angekommen.

Ein Abgeordneter der Präsidenten-Partei „Diener des Volkes“, Oleksandr Mereschenko, gab der „Financial Times“ Anfang Oktober ein Interview. Dabei warnte er vor „ultranationalistischen Elementen“, die eine reale Bedrohung darstellen und Verhandlungen über ein Ende des Krieges im Wege stehen würden. „Die extreme Recht in der Ukraine wächst“, sie seien eine reale Gefahr, meinte Mereschenko. Und sie würden jede Art von Verhandlung als Kapitulation bezeichnen. Die Reaktionen in den sozialen Medien scheinen das zu bestätigen, wie etwa jene des Kommandeurs der Dritten Sturmbrigade der ukrainischen Streitkräfte, Dnytro Kutscharchuk, der ihn als linksradikalen Feigling bezeichnete.

Historische Wurzeln

Man muss also Russland zugestehen, dass es keine bloße Propaganda war, als man die umstrittenen historischen Wurzeln des ukrainischen Nationalismus anprangerte. Dies taten bis zum Beginn des Ukrainekriegs übrigens auch die westlichen Medien. Bereits zur Zeit des Euromaidan, der Revolution (Staatsstreich) gegen Präsident Viktor Janukowitsch, wurde deutlich, wie der aktivste und kämpferischste Teil der ukrainischen Nationalisten ganz offen, inmitten von Hakenkreuzen und schwarzen Sonnen, an die Nazi-Tradition anknüpfte. Natürlich gibt es auch unter den russischen Kräften Rechtsextreme, wie etwa die Gruppe Wagner, aber mit weniger Einfluss als in der Ukraine, wo die staatliche Struktur schwächer ist.

Otto Waechters Sohn

Interessant sind in diesem Zusammenhang Erfahrungsberichte jener, die sich vor dem Ukrainekrieg ein Bild über die nationalsozialistische Folklore der entsprechenden Gruppen machen konnten. „Libratus“ traf dazu in Wien Horst Waechter, den Sohn Otto von Waechters, ehemaliger Kriegsgouverneur von Galizien, der Region in der Westukraine, die früher Teil des Habsburgerreiches war. Otto von Waechter zählte zur Gruppe der ersten österreichischen Nazis und war am Juliputsch 1934 gegen die österreichische Regierung beteiligt. Otto von Waechter ergriff die Initiative zur Gründung der Division der Waffen-SS Galizien, die später wegen Kriegsverbrechen angeklagt wurde und deren Geschichte im Zentrum der ukrainischen nationalistischen Tradition steht. Horst, der Sohn, ein agiler Achtzigjähriger, erzählt, dass sein Vater in der Ukraine von Ultranationalisten immer noch verehrt wird: „Mein Vater war eng mit der ukrainischen Geschichte verbunden und in Galizien ist er immer noch sehr beliebt.“ Als Philippe Sands seinen Dokumentarfilm „My Nazi Legacy – Children of Senior Nazis“ mit ihm drehte, wurde Horst von diesen Gruppen als Otto von Waechters Sohn dort mit allen Ehren empfangen: „Können Sie sich vorstellen, dass ich bei meinem Besuch 2015 von einem jungen Mann angesprochen wurde, der einen SS-Helm trug und zu mir sagte: ,Dieser Helm hat mich auch während des Euromaidan-Aufstands gut geschützt!‘“

Philippe Sands Film "My Nazi Legacy" dokumentiert den Ukraine-Besuch.

Die NS-Führung konnte sich auf Otto von Waechter und seine Gefolgsleute in der Ukraine verlassen: „Himmler war sehr beeindruckt von dem Prestige seiner Figur. Himmler erkannte auch, dass die ukrainischen Nationalisten auf seiner Seite eine große Hilfe gegen die Sowjets sein konnten, also ließ er meinem Vater freie Hand, der 1943 die Waffen-SS Galizien gründete, eine Armee von mehr als hunderttausend Ukrainern, um dem sowjetischen Vormarsch entgegenzuwirken.“

Ukrainische SS-Division

Tatsächlich war die 14. Waffen-Grenadier-Division der SS, die mit ukrainischen Freiwilligen aufgestellt wurde, von beachtlicher Größe. Sie wuchs von etwas mehr als 12.000 Mann auf 22.000 Mann im Jahr 1944 an und wurde bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Polen und in der Tschechoslowakei eingesetzt: „Es gab so viele Freiwillige, dass er am Ende des Krieges an Himmler schrieb: 'Wir müssen eine zweite Division bilden.‘ Sein Vermächtnis lebt im ukrainischen Geist des Widerstands und der Unabhängigkeit gegenüber den Russen fort.“

Am Ende des Krieges, im Frühling 1945, befand sich die SS-Galizien-Division in der Steiermark, und um den Sowjets zu entkommen, ergaben Sie sich den Briten. Anschließend wurden sie nach Rimini in Italien geschickt, wo sie der Armee des polnischen Generals Wladislaw Anders unterstellt waren.

Auf der Potsdamer Konferenz bestand Stalin darauf, dass der britische Premierminister Winston Churchill sie ausliefern müsse. Doch in der Zwischenzeit dachte Churchill bereits über den nächsten Konflikt gegen die Sowjetunion nach und plante die „Operation Unthinkable“. Teil dieses Plans war die Idee, den Widerstand gegen die Sowjets in der Ukraine auch nach dem Krieg fortzusetzen, ein Widerstand, der bis in die 1950er Jahre andauerte.

Otto von Waechter, der sehr gute Beziehungen zum polnischen Adel hatte, erreichte eine Vereinbarung mit General Wladislaw Anders. Der ukrainischen SS würde das Schicksal der Donkosaken erspart, die an Stalin ausgeliefert und als Verräter weitgehend hingerichtet wurden. Die SS-Division wurde stattdessen nach England verschifft und dann nach Kanada verlegt.

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Karl Zech, Otto von Waecher und Rudolf Klenert 1940 bei der Evakuierung von Volksdeutschen. © CommonsWikimedia.

Die letzten Jahre von Otto von Waechter erscheinen grotesk. Unter falschem Namen war er Schauspieler und Statist in Cinecittà, wie andere Nazis, die in Rom lebten. Einige von ihnen spielten paradoxerweise die Rolle von Nazis, von sich selbst, im Kino. Wie im berühmten Kriegsfilm von Ernst Lubitsch - “To be or not to be”- aber umgekehrt: Dort waren es Juden, die sich als Nazi verkleideten.

Er starb dann 1949 unter mysteriösen Umständen. “Mein Vater stand auf der schwarzen Liste Stalins. Aus Dokumenten, die 2004 von der CIA freigegeben wurden, geht hervor, dass er auf Befehl der NKDV, Vorläufer des KGB, von einem Spion, dem ehemaligen SS-Mann Karl Hass, der ein doppeltes Spiel zwischen den Amerikanern und den Russen spielte, vergiftet wurde.” 

“Welche Rolle hat diese belastete Familiengeschichte in Ihrem Leben gespielt?“

Waechter: „Das Schicksal meines Vaters bestimmte mein ganzes Leben, und um mich einer guten Sache zu widmen, arbeitete ich als Sekretär für den Künstler Friedensreich Hundertwasser, der jüdischer Herkunft war. Ich verließ ihn einige Jahre nachdem er Joram Harel als seinen Manager eingestellt hatte. Man sagt, dass Joram Harel der Sohn des berühmten Mossad-Chefs Isser Harel ist. Derjenige, der Eichmann in Argentinien entführt hat. Deswegen Hundertwasser hat damals oft diesen Witz erzählt. “Ich habe zwei Assistenten, der eine ist der Sohn des größten Nazis und der andere Sohn des Mossad-Chefs.“

Horst von Waechter lässt uns mit mehr Fragen als Antworten zurück. Wenn Tabus aufgebaut werden, können sie leicht als Propagandawaffen eingesetzt werden. In einem Interview von Mai 2022 an dem russischen Außenminister Lawrow wurde gefragt: „Wie können Sie behaupten, dass die ukrainische Regierung voller Nazis ist, wenn Zelensky jüdischer Herkunft ist?“ Worauf er antwortete: „Wissen Sie nicht, dass es historische Beweise dafür gibt, dass Hitler auch jüdischer Herkunft war?“

Offensichtlich dreht jeder die Geschichte so, wie er es für richtig hält. Schon jetzt scheint es so zu sein, dass je nach Lage der Dinge entschieden wird, wer ein echter Nazi oder wer nur ein Kant lesender Patriot ist.

Zum Weiterlesen:

Philippe Sands, Die Rattenlinie. Ein Nazi auf der Flucht. 2020.

 

Manfred Manera

Autor bei Libratus

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