
Islamisten-Netzwerk ruft zum Dschihad auf
Die Internationale Union Muslimischer Gelehrter (IUMS) ruft offen und weltweit zum bewaffneten Dschihad gegen Israel auf – und beeinflusst über ein weitverzweigtes Netzwerk auch Moscheen und Verbände in Europa. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen religiöser Autorität, politischer Agitation und islamistischem Terrorismus.
Artikel als Audio anhören
Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 tritt eine islamische Institution besonders lautstark in Erscheinung: die in Katar ansässige Internationale Union Muslimischer Gelehrter (IUMS). Im Monatstakt veröffentlicht sie Fatwas (islamische Rechtsgutachten), ergänzt durch kurze Videos und Botschaften über soziale Medien.
Ob umfangreich oder knapp – der Tenor ihrer Mitteilungen ist immer derselbe: religiöse Rechtfertigung der Massaker der Hamas und der Versuch, Muslime weltweit zum Kampf gegen Israel zu mobilisieren.
Islamverbände und IUMS-Einfluss
Die IUMS wurde 2004 auf Betreiben von Yusuf al-Qaradawi (1926–2022) gegründet, dem einflussreichsten Vordenker und spirituellen Führer der Muslimbruderschaft. Als erster Präsident machte er die Organisation zur religiösen Speerspitze des politischen Islam.
In der Zwischenzeit arbeitet die IUMS eng mit der türkischen Religionsbehörde Diyanet zusammen – eine Kooperation, die erst unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan entstanden ist. Das hat direkte Auswirkungen auf Österreich und Deutschland, denn hier sind die größten Islamverbände – ATIB in Österreich, DITIB in Deutschland und die Islamischen Föderationen (Milli Görüş) – mit der Diyanet verbunden, die auch zahlreiche Imame dieser Vereinigungen ausbildet. „Die Türkei zählt neben Katar zu den wichtigsten Unterstützern der IUMS“, sagt die Politologin und Extremismusexpertin Nina Scholz. „Bis heute sitzen laut Statuten Diyanet-Beamte im Aufsichtsrat der Atib.“
Lehrautorität für Europa
Der Historiker und Antisemitismus-Forscher Heiko Heinisch warnt: „Die IUMS gilt als Lehrautorität für bekannte Moscheeverbände im deutschsprachigen Raum. Ihr Einfluss lässt sich bis in einzelne Moscheen zurückverfolgen.“ Die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) nennt die Rolle der IUMS im organisierten Islam höchst alarmierend. Die Vereinigung habe „zu weit über tausend Moscheen in Deutschland eine Beziehung, die ihre Lehrautorität beinhaltet.“ Alle maßgeblichen Islamverbände in Deutschland hätten in der Vergangenheit positive Beziehungen zur IUMS gehabt.
Anders als in Deutschland und Österreich gehen einige arabische Staaten längst rigoroser vor: Ägypten, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain haben die IUMS bereits als Terrororganisation eingestuft. Die Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023 zeigen: Diese Einschätzung ist nicht unbegründet.
IUMS und das Hamas-Massaker
Die IUMS reagierte blitzschnell auf den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober. Fast schien es, als sei sie vorbereitet gewesen: Bereits eine Stunde nach Beginn der Massaker veröffentlichte sie ihre erste Solidaritätsbotschaft. Über ein Dutzend Medienformate folgten noch am selben Tag – alle versehen mit dem Hashtag #Aqsa_Flood, der den Codenamen der Hamas für den Angriff („al-Tufan al-Aqsa“, deutsch: „Al-Aqsa-Flut“) aufgriff.
Am Tag nach dem Angriff veranstaltete die IUMS eine Online-Konferenz zur Unterstützung der Hamas. Islamistische Prediger priesen dort den „Dschihad“ der Terrororganisation, riefen zum „heiligen Krieg“ auf und forderten Muslime weltweit zur Beteiligung mit allen Mitteln auf. Ehrengast war Hamas-Chef Ismail Haniyya. Er wurde angekündigt als „Kommandant der Männer Gottes, die nun die Landkarte zeichnen, welche die Menschheit in die nächste Phase führen wird.“
Ein Dschihadist wird in Israel im August 2022 verhaftet. © CommonsWikimedia.
Dass Haniyya damals 20 Minuten seiner Zeit für ein IUMS-Event reservierte, zeigt nach Einschätzung des spanischen Extremismus-Experten Sergio Altuna die enge ideologische Nähe zwischen IUMS und Hamas. Altuna hat für das Program on Extremism an der George Washington University einen brisanten Bericht über die Verherrlichung des Massakers durch die IUMS verfasst („Beyond Islamic Guidance“, Dezember 2023).
Eskalation in mehreren Stufen
Die Strategie der IUMS umfasse mehrere Ebenen, sagt Altuna gegenüber „Libratus“. Seit dem Überfall auf jüdische Zivilisten habe „eine schrittweise Eskalation“ stattgefunden: „Zuerst gab es eine religiöse Empfehlung – ohne verpflichtenden Charakter –, dass Muslime Israel wirtschaftlich boykottieren sollten. Dann kam der diplomatische Druck: Staaten wurden aufgefordert, politische Maßnahmen gegen Israel zu ergreifen.“
Mittlerweile werde die Idee verbreitet, „dass jeder Muslim die Hamas wirtschaftlich unterstützen muss – auf welche Weise auch immer: ob durch Spenden oder andere Formen der Hilfe. Es geschieht eine systematische Ausweitung der Konfliktfronten: Sie versuchen, Schritt für Schritt vorzugehen und alle Lebensbereiche einzubeziehen.“
Umgesetzt werde das durch eine hochentwickelte Kommunikationskampagne: „Die Mitglieder der IUMS produzieren verschiedene hochwertige Inhalte – von kurzen Clips über Texte bis hin zu akademisch-religiösen Schriften – die jeweils auf unterschiedliche Zielgruppen zugeschnitten sind.“
Dabei instrumentalisiert die IUMS Israels Gegenschläge und den blutigen Konflikt mit Tausenden Toten im Gazastreifen gezielt, um sich als Stimme Palästinas zu inszenieren und eine Boykottstimmung gegen Israel zu schüren. „In der Öffentlichkeit entsteht der Eindruck, plötzlich würde eine Gruppe Unbekannter zum Dschihad gegen Israel aufrufen. Tatsächlich ist das Teil einer konsistenten Strategie.“
Fatwas als Waffe
Die Menge der Fatwas, Videos und Aufrufe zur totalen Mobilisierung der Umma, mit denen die IUMS seit dem 7. Oktober ihre Anhänger weltweit überschwemmt, ist beachtlich. (Man findet sie unter anderem auf ihrem X-Account.) Prominente Figuren wie Generalsekretär Ali al-Qaradaghi beschwören dabei eine kämpferische Rhetorik: „O Gott, hilf unseren Mudschaheddin-Brüdern und schenke ihnen den Sieg. Besiege und vertreibe diese bösen Feinde aus unserem gesegneten Land.“
Die libanesische Hisbollah-Miliz beim Training in Aaramta im Jahr 2023. © CommonsWikimedia.
Bereits am 22. Oktober veröffentlichte die IUMS eine erste zentrale Fatwa, in der die Hamas-Angriffe als „legitimer Dschihad, der für die Palästinenser verpflichtend ist“, bezeichnet werden. Sie fordert finanzielle, militärische und politische Unterstützung durch alle Muslime weltweit. Eine zweite Fatwa ging noch weiter: Wer Israel unterstützt – ob politisch oder finanziell –, begehe laut IUMS „eine der großen Sünden“ sowie Apostasie – ein Abfall vom Glauben –, das nach islamischem Recht mit dem Tod bestraft wird.“
„Legitimer Dschihad“
Parallel dazu verbreitet die IUMS eine apokalyptische Lesart des Nahost-Konflikts. Die Kämpfe seien eine „Vorreinigung der Erde“, eine Vorbereitung auf die „Befreiung Jerusalems von jüdischer Herrschaft“. Die Organisation verknüpft das Geschehen mit islamischen Endzeitprophezeiungen – etwa der Rückkehr Jesu auf den Felsendom und dem Erscheinen des Mahdi, der vom Tempelberg aus herrschen soll. Der Mahdi ist im islamischen Glauben eine endzeitliche Erlöserfigur, die vor dem Jüngsten Tag erscheinen und eine weltweite Herrschaft des Islam errichten soll.
Der „Kampf um die Medienhoheit“ kommt hinzu. In einem Artikel bezeichnet al-Qaradaghi den „Medien-Dschihad“ als „eine der wichtigsten und gefährlichsten Formen des Dschihad“. Zur Begründung schreibt er: „Die Juden kontrollierten die Welt nur durch Geld, Medien und Gedanken.“ Und weiter: „Der Dschihad mit Stift und Zunge durch Artikel, Videos und Bücher ist nicht weniger bedeutsam als der Dschihad mit dem Schwert.“
Neue Eskalation im April
Was als ideologische Mobilisierung begann, mündete im April 2025 in eine neue Eskalationsstufe. Eine weitere Fatwa erklärte den bewaffneten Dschihad gegen Israel zur individuellen Pflicht jedes einzelnen Muslims weltweit. Der Wortlaut lässt keinen Spielraum: „Es ist verpflichtend, sich am Dschihad gegen die zionistische Entität und alle, die mit ihr im besetzten Land kollaborieren – seien es Söldner oder Soldaten aus irgendeiner Nation – zu beteiligen.“
Die Unterstützung der Hamas und ihrer Strukturen sei eine „bindende Pflicht“ – mit Waffen, Fachwissen und Informationen. Al-Qaradaghi beruft sich dabei ausdrücklich auf den Koranvers 5:51: „O ihr, die ihr glaubt, nehmt nicht die Juden und die Christen zu Freunden.“
Der Extremismusforscher Sergio Altuna hält fest: „Die jüngste Fatwa – die Verpflichtung aller Muslime zum Dschihad gegen Israel – zeigt, wohin die Reise geht. Sie ist im Wesentlichen eine Zusammenfassung und Verschärfung der vorherigen Fatwas.“
Muslimbruderschaft im Zentrum
Die enge Verbindung zur Hamas überrascht kaum, schließlich gilt die IUMS als zentrale Lehrautorität der Muslimbrüder, und die Hamas als palästinensischer Zweig der Muslimbruderschaft. „Fünf oder sechs Persönlichkeiten an der Spitze sind eindeutig klassische Muslimbrüder“, sagt Extremismusexperte Altuna. „Viele andere bewegen sich eher im Orbit dieser Ideologie – wie Planeten um eine Sonne. Sie sind ideologisch nah dran.“ Zurzeit fungiere die IUMS zunehmend als globales Sprachrohr.
Vor zwei Jahrzehnten erkannte Gründer Yusuf al-Qaradawi, dass klassische religiöse Institutionen an Einfluss verlieren. Altuna erläutert: „Die meisten Muslime folgen nicht mehr dem, was etwa Al-Azhar sagt. Deshalb hat Qaradawi neue Strukturen aufgebaut – Leuchttürme des islamistischen Denkens.“ Manche davon richten sich auch an die Muslime in Europa, wie etwa der „European Council for Fatwa and Research“.
Ein Schlüssel zum Erfolg sei die moderne, international ausgerichtete Kommunikationsstrategie der IUMS. „Innerhalb von 20 Jahren ist es gelungen, sehr prominente religiöse Stimmen zu versammeln – ägyptische, mauretanische, marokkanische Geistliche. Diese Zusammensetzung repräsentiert den gesamten muslimischen Raum.“
Besonders einflussreich auf Social Media sei der mauretanische Prediger Muhammad al-Hassan al-Dadaw: „Er ist vielleicht die am meisten respektierte Stimme des islamistisch-konservativen Denkens im Maghreb.“
Satelliten und Tarnstrukturen
Nach dem Scheitern des Arabischen Frühlings zielt die Bewegung der Muslimbrüder auf einen strategischen Wiederaufbau. Eines ihrer Hauptziele: Das Thema Palästina ständig präsent zu halten, insbesondere bei der Jugend. Die Botschaft sei: „Wir waren immer an eurer Seite. Wir haben die Palästinenser immer unterstützt.“
Um die Reichweite zu vergrößern, besteht ein Netz aus Parallelorganisationen, die dieselben Inhalte wie die IUMS über verschiedene Kanäle verbreiten. Dazu gehören etwa die „International Organization to Support the Prophet of Islam“ oder das Gelehrtenforum (Muntaḍā al-ʿUlamāʾ). „Dies ist ein Satellit der IUMS“, erklärt Altuna. „Diese Parallelstrukturen erwecken den Eindruck einer breiteren, vielfältigeren Bewegung, obwohl es sich oft um dieselben wenigen Führungspersönlichkeiten handelt.“
„Gut finanziertes Netzwerk“
Der Westen sollte die IUMS nicht unterschätzen, warnt Sergio Altuna: „Wir verstehen oft nicht, dass die IUMS nicht einfach eine Gruppe kontroverser Prediger ist, sondern ein gut finanziertes Netzwerk einflussreicher Akteure, das von der Muslimbruderschaft gegründet wurde und mit ihr verbunden bleibt.“
Die Islamverbände und auch die Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) schweigen bisher zur Fatwa, mit der die IUMS alle Muslime zum Dschihad aufgerufen hat. Die Politikwissenschaftlerin und Islamismus-Expertin Nina Scholz warnt: „Die Behörden sind jetzt gefordert. Vor allem die Sicherheitsbehörden sollten den Aufruf zur Gewalt als das begreifen, was er ist: eine akute und wahrscheinlich langanhaltende Bedrohung.“
Was sich nach außen als „Union islamischer Gelehrter“ präsentiert, ist in Wahrheit ein religiös verbrämtes Terrornetzwerk mit globalem Anspruch – dessen geistige Brandstifter Kontakte bis in europäische Moscheen haben.♦