
Kinder als Ware im Propagandakrieg
Kinder aus der Ukraine, meist Waisen, wurden zum Spielball der Interessen. Russland wird der Entführung geziehen. Steht aber wirklich das Kindeswohl im Zentrum? Und wie hält es die Ukraine selbst mit den Kinderrechten? Eine Analyse.
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Die Meldung ging kürzlich durch alle Medien in Österreich: 52 kleine Kinder aus der Ukraine, die im Burgenland von einem Verein offenbar fürsorglich betreut wurden, mussten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf Geheiß der ukrainischen Behörden zurück. Ins Kriegsgebiet. Trotz allgemeiner Kritik, etwa vom UNHCR.
Auch in anderen Bundesländern erfolgte ein „Marschbefehl“. Es handelt sich um elternlose Kinder, Waisen- und Pflegekinder, viele von ihnen schwerst behindert. Es warten in der Ukraine also keine Familienangehörigen auf sie. Das wirft Fragen auf, viele Fragen.
Warum gerade jetzt?
So etwa die Frage, warum zu diesem Zeitpunkt? Die Kinder hatten sich nach Angaben der Betreuer in Österreich gerade etwas stabilisiert. In der Ukraine eskaliert der Krieg weiter. Zeitgleich zur Rückführung erfolgte der Angriff der Ukraine auf sensible Militärflughäfen in Russland, was einen massiven Gegenschlag hätte zur Folge haben können. Aber auch ohne weitere Eskalation ist die Situation in der Ostukraine gefährlich, lebensgefährlich. Vor allem für Kinder, zumindest weiter traumatisierend.
Warum also? Man sollte annehmen, dass in so einer Situation gerade Kinder in Sicherheit gebracht werden, und nicht bewusst einer Gefahr ausgesetzt werden, nachdem sie schon in Sicherheit waren.
Die ukrainischen Behörden erweisen sich als sehr empfindlich, wenn es um „ihre“ Kinder geht. Hätten die österreichischen Behörden sich im Sinne des Kindeswohls geweigert, sie abreisen zu lassen, wäre ihnen wohl der Vorwurf der „Entführung“ gemacht worden. Wie schon öfter.
In "feindliches Gebiet"
So etwa, als ein Mitarbeiter des Europäischen Ombudsmann-Instituts im Februar 2023 zwei Jugendliche aus der Ukraine, die in Tirol untergebracht waren, nach Moskau begleitet hatte. Er hatte dort ihre leiblichen Mütter ausfindig gemacht und wollte eine Familienzusammenführung. Die Folge war ein Skandal, er wurde suspendiert, der ukrainische Botschafter sprach von Entführung in „feindliches Gebiet“.
Der Fall ist undurchsichtig, vor allem, welche Rolle die russischen Behörden spielten. Aber auch deshalb, weil die Mütter und ihre Kinder auf Videoaufnahmen nach der Zusammenführung nicht glücklich, sondern unglücklich wirken. Diese wurden im russischen Fernsehen zusammen mit der russischen Europäischen Ombudsfrau propagandistisch in Szene gesetzt.
Bildschirmfoto des Videos vom Jänner 2023.
Als Reaktion für diesen Propaganda-Coup durften wenige Wochen später 53 ukrainische Kinder auf Geheiß der ukrainischen Behörden nicht aus dem Kriegsgebiet nach Tirol in die bereits vorbereiteten Unterkünfte ausreisen.
Kindeswohl?
Das wirft eine weitere Frage auf: Was ist das Kindeswohl?
Die Ukraine hat, wie viele Staaten, 1991 die Kinderrechts-Konvention der UNO ratifiziert. Darin geht es um dieses Kindeswohl, und auch um das Recht auf Mutter und Vater. 2008 unterzeichnete die Ukraine noch ein UN-Dokument zum Kindeswohl, in dem vom „vollen emotionalen Komfort“ für Kinder die Rede ist.
Wurde dieses Kindeswohl in der Ukraine seither beachtet und umgesetzt?
Laut SOS Kinderdorf und offiziellen deutschen Zahlen, etwa der Jugendhilfe, gab es 2022 – vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs – etwa 100.000 Waisenkinder. Die Hälfte von ihnen behindert. Es gab dazu 150.000 Straßenkinder und 160.000 „Sozialwaisen“, die also Vater und Mutter haben, die sie aber ausgesetzt haben. Diese wurden meist in großen Heimen untergebracht, in Großgruppen und nicht nach Alter getrennt. Die staatlichen Fürsorgeeinrichtungen riefen immer wieder Kritik hervor, da diese Unterbringung nicht mehr zeitgemäß sei und die Gefahr von Gewalttätigkeiten fördere. (Sie etwa die Dissertation von Mykholo Plotsidem an der Uni Innsbruck.)
Warum so viele Waisen?
Warum gab es bereits vor dem Krieg so viele „Waisen“ in der Ukraine?
Es gibt mehrere Gründe. So etwa die große soziale Not vor allem im Osten des Landes. Diese führte zu zweierlei: Dass Kinder ausgesetzt werden, weil man sie nicht ernähren kann; Dass sie zurückgelassen wurden, wenn die Eltern im Ausland arbeiten; Und dass sie nicht abgeholte „Produkte“ von Leihmutterschaften sind.
Was hat die Leihmutterschaft damit zu tun?
Letzterer Punkt ist besonders problematisch. Die Ukraine ist das einzige Land Europas und eines der wenigen weltweit, das kommerzielle Leihmutterschaft erlaubt. Damit wurde dies ein riesiger Geschäftszweig. Aus wirtschaftlichen Gründen entschließen sich Frauen, ihre Gebärmutter zu „vermieten“, also das Kind von anderen auszutragen, die keine Kinder bekommen können. Diese zahlen zigtausende Euro an eine der zahlreichen Agenturen, wie man ganz offen auf deren Websiten nachlesen kann. Einschließlich „Erfolgsgarantie“.
Und das führt zur nächsten Frage.
Auffallend viele Behinderte
Warum gibt es überproportional viele behinderte „Waisen“?
Es gibt bei der Leihmutterschaft verschiedene Pakete und genaue Verträge. Diese sehen vor, dass die Bestell-Eltern ein Recht auf ein gesundes Kind haben und nur in diesem Fall zahlen müssen. Wird eine Behinderung während der Schwangerschaft festgestellt, wird abgetrieben. Wird die Behinderung jedoch übersehen oder kommt es erst bei der Geburt zu Komplikationen, muss die Leihmutter selbst sehen, wie sie zurechtkommt. Die Agentur und die Bestell-Eltern verweigern meist die Übernahme.
Nun kann man sich vorstellen, dass eine quasi mittellose Frau nicht auch noch ein letztlich fremdes und womöglich behindertes Kind ernähren und aufziehen kann.
Also bleibt das Kinderheim, denn eine Adoption ist bei einem behinderten Kind wenig realistisch. Die Kinder werden von den Bestell-Eltern nicht mitgenommen, wenn sie behindert sind. Das zeigt auch eine Doku der ABC aus 2019.
Was ist mit den Kinderrechten?
Kinder aus Leihmutterschafts-Verträgen haben de facto keinerlei Rechte: Kein Recht auf (leibliche) Eltern, kein Recht auf Familie – sie sind eine Ware. Sie werden bestellt, bei Mängeln abgetrieben (das kann auch das falsche Geschlecht sein) oder nicht übernommen nach der Geburt. Im Erfolgsfall werden sie „ausgeliefert“ an die Kunden in aller Welt. Somit gestattet die ukrainische Regierung offiziell den Kinderhandel – und die Ausbeutung ukrainischer Frauen.
Gefahr für Mütter und Babys
Leihmutterschaft ist in der aktuellen Situation zusätzlich lebensgefährlich, denn der Krieg bringt eine neue Gefahr: Wir erinnern uns an die Bilder zu Beginn des Ukraine-Kriegs von beschossenen Gebärkliniken. Es waren auf diesen Bildern ausschließlich hochschwangere Frauen zu sehen, aber keine Babys. Im Normalfall begibt sich eine Frau nur zur Geburt in eine Klinik und verlässt sie kurz danach mit ihrem neugeborenen Kind.
Doch eine Klausel in den meisten Verträgen besagt, dass sich die schwangeren Frauen etwa zwei Monate vor der Geburt in einer Gebärklinik einfinden müssen, um dort überwacht zu werden, damit alles gut verläuft. Sie dürfen weder das Land noch die Klinik verlassen, weil sie sonst Vertragsbruch begehen. Somit mussten die Schwangeren im Kriegsgebiet ausharren und sich der Lebensgefahr aussetzen.
Auch erinnern wir uns an die Bilder von Babys in Kellern, die nicht von ihren Bestell-Eltern abgeholt wurden – während der Pandemie und auch während des Kriegs.
Rolle der Behörden
Somit stellen sich weitere zentrale Fragen: Wie ist die angebliche Sorge der ukrainischen Behörden um „ihre“ Kinder mit diesen Zuständen vereinbar? Wie kann man anderen Ländern vorwerfen, Kinderrechte zu missachten, wenn man selbst Kinderhandel erlaubt? Wenn man Kinder zu rechtloser Ware degradiert? Wenn man sie bewusst in Kriegsgebiete zurückschickt? Wenn man seriösen Hilfsorganisationen nicht erlaubt, sich um sie zu kümmern und aus der Gefahrenzone zu halten? Wenn man Russland vorwirft, Kinder für eigene Zwecke zu benützen, wenn man selbst auf Kinderrechte keine Rücksicht nimmt? Wenn man Russland vorwirft, durch die Entführung von Kindern aus dem Kriegsgebiet „Völkermord“ zu betreiben und gleichzeitig selbst Kinder ins Kriegsgebiet zurückführt?
All diese Fragen harren einer Antwort, vor allem, da die EU die Ukraine in ihre „Wertegemeinschaft“ aufnehmen will.♦
Zum Weiterlesen:
Eva Maria Bachinger, Kind auf Bestellung.
Dies., Die neuen Gebärmaschinen? Was die globale Leihmutterschaft mit Frauen und Kindern macht. Hg. Initiative „Stoppt Leihmutterschaft“. 2023.