Zum Hauptinhalt springen
Blumenornament Tagung Blockfreie Staaten
Weltkongress Bewegung blockfreier Staaten 2019; Bild: © CommonsWikimedia.

Neutralität: Exotisch, riskant oder Normalfall?

Neutral zu sein – und dies bleiben zu wollen – gilt heute geradezu als verdächtig und gefährlich. Nachteilig für die betreffenden Länder und außerhalb der Norm. Betrachtet man die Situation global und historisch, ergibt sich ein anderes Bild. (Frei zugänglicher Artikel)

Gudula Walterskirchen | Politik | 18. Oktober 2024

Artikel als Audio anhören

Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Militärbündnisse, in Zeit der Monarchien, in Europa die Regel: Rheinbund, Heilige Allianz, Schutz- und Trutzbündnisse, Zweibund- Dreibund, Dreikaiservertrag, Zweiverband, Entente Cordiale/Triple Entente, Balkanbund, Mittelmächte und so weiter. Wie wir heute wissen, führten diese Verflechtungen direkt in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien ging ein Mechanismus los, durch den binnen weniger Wochen fast alle Staaten der Welt einander den Krieg erklärten.

Die USA hielten sich lange fern, die Bevölkerung weigerte sich, sich an dem Krieg im fernen Europa involviert zu werden. Mittels ausgeklügelter Propaganda, etwa unter Einsatz von „Influencern“, gelang es, die US-Bürger umzustimmen und für einen Kriegseintritt zu gewinnen. Dies sollte den Beginn der USA als Weltmacht markieren.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs erfolgte der Einmarsch deutscher Soldaten ins damals neutrale Belgien. Dies gilt bis heute als ultimativer Beleg, dass Neutralität nicht schützt. Es gab in Europa etliche Länder, die sich aus den beiden großen Kriegen oder zumindest aus einem davon, erfolgreich heraushielten. Allen voran die neutrale Schweiz, sowie Skandinavien und die Niederlande. Doch auch die Iberische Halbinsel, Portugal und Spanien, waren oder verhielten sich neutral. Somit fungierte während des Zweiten Weltkriegs Lissabon als Hoffnungshafen für Flüchtlinge, viele davon Juden, die nach Amerika emigrieren wollten.

CommonsRudolf Wilke 1898web

In kriegslüsternen Zeiten verspottet: "Wohlwollende Neutralität" - Karikatur von Rudolf Wilke aus der Zeitschrift "Jugend" aus 1898. © CommonsWikimedia

Auf dem amerikanischen Kontinent beteiligten sich viele Staaten nicht an den Kampfhandlungen, zum Beispiel Brasilien, Costa Rica, Guatemala, Haiti, Honduras, Kuba, Nicaragua, Panama. Auch China verhielt sich neutral.

Doch was bedeutet Neutralität eigentlich? Neutralität bedeutet die Nichtbeteiligung eines Staates an einem Krieg oder einem bewaffneten Konflikt zwischen Staaten oder anerkannten Parteien in einem Bürgerkrieg. Einem neutralen Staat ist es laut dem Haager Abkommen von 1907 verboten, sein Territorium fremden Truppen zur Stationierung oder für die Austragung von kriegerischen Handlungen zur Verfügung zu stellen. Ein dauerhaft neutraler Staat darf keinem militärischen Bündnis angehören und keine Abkommen über kollektive Verteidigung schließen - so die Definition des Wiener Politikwissenschaflers Heinz Gärtner.

Im Zweiten Weltkrieg sahen die Bündnissysteme völlig anders aus: Alle gegen Nazi-Deutschland, so die grobe Formel. Dass etwa die Sowjetunion unter Stalin die Fronten wechselte und sich mit dem zuvor verhassten Westalliierten verbündete, zählt zu den Volten der Geschichte.

Der Kalte Krieg brachte wiederum eine neue Form der militärischen Bündnissysteme: Nato und Warschauer Pakt. Die Details sind bekannt. Zwischen diesen Blöcken, die stark aufrüsteten, bildete sich ein „Gleichgewicht des Schreckens.“ Dazwischen ein Saum neutraler Staaten: die Schweiz, Österreich, Schweden, Finnland und einige andere kleine Staaten. Verhandelt wurde auch über eine Neutralität Deutschlands, nach dem Vorbild Österreichs, auf Vorschlag des US-Botschafters in Moskau, George F. Kennan. Doch diese Pläne wurden von Deutschland unter Konrad Adenauer abgelehnt. Er nahm irrigerweise an, dass nur eine Verankerung im Westen und damit in der Nato, die Truppen des Warschauer Pakts zum Abzug aus Europa bewegen würden. Er täuschte sich, das Ergebnis war eine Teilung Deutschlands.

Wer ist der Feind?

Neutralität ist riskant, das zeigte wie erwähnt die Geschichte. Somit ist aber Neutralität Österreichs nicht, wie heute wieder gebetsmühlenartig behauptet, Trittbrettfahrerei oder Feigheit, sondern bedeutet viel Mut. Riskant war sie vor allem im Kalten Krieg, etwa beim Ungarnaufstand 1956 oder im Prager Frühling 1968, als es eine akute Bedrohungslage gab. Interessant ist, was nach Ende des Kalten Kriegs, der Implosion der Sowjetunion und dem gewaltlosen Ende des Warschauer Pakts geschah: Die Nato bestand weiter – doch wer war nun der Feind?

Die Nato blieb nicht nur bestehen, sondern erweiterte sich um etliche Mitgliedsländer des ehemaligen Warschauer Pakts. Es fehlte zwar die akute Bedrohung, jedoch wog das Trauma der vergangenen Jahrzehnte zu schwer, als es ohne Bündnis unter der Schutzmacht USA zu versuchen.

Es stellt sich die Frage, welche Militärbündnisse es weltweit, abgesehen von der Nato, überhaupt noch gibt? Einige, die kaum jemand kennt und die nicht oder kaum in Erscheinung treten. Da ist einmal die „OVKS“, die „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit.“ Zuvor gegründet wurde 1992 der „VKS“, der Vertrag über kollektive Sicherheit. Er sollte eine Art Ersatz des Warschauer Pakts sein, doch sehr geschrumpft. Mitgliedsländer sind Russland, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan.

Ein weiteres Bündnis ist die „Arabische Liga“: Diese wurde 1945 als Wirtschaftsbündnis gegründet, dann 1950 auch zum Verteidigungspakt. Allerdings blieb sie wirkungslos. Ihre 22 Mitglieder, inklusive Palästina, sind intern zerstritten.

Dichtes Netz an Bündnissen

Im Gegensatz zu Russland haben die USA neben der Nato noch ein weiteres dichtes Netz an Militärbündnissen und Einzelabkommen geschlossen. So etwa TIAR, besser bekannt als „Rio-Pakt“ 1947 betreffend den gesamten amerikanischen Kontinent (ausgenommen Kanada). Heute  ist das Bündnis wegen des Streits zwischen den lateinamerikanischen Ländern und den USA bedeutungslos. Weiters haben die USA nach dem Zweiten Weltkrieg Abkommen im Pazifischen Raum, ANZUS und AKUS, abgeschlossen. Letzteres wurde 2021 erneuert und erweitert, als klares Signal gegen China.

Relativ neu ist, dass auch Europa neben der Erweiterung der Nato, die fast alle europäischen Länder umfasst, noch zusätzliche Militärbündnisse schmiedet. Die PESCO ist das Militärbündnis der Europäische Union, eigentlich eine Friedens- und Wirtschaftsunion. Seit dem Vertrag von Lissabon 2009 ist sie das auch militärisch. Seit kurzem gibt es auch einen EU-Verteidigungskommissar – ein klares Signal, dass man die reine Wirtschaftsgemeinschaft längst aufgegeben hat. Den ersten Einsatz hatte die PESCO beim Terroranschlag in Paris 2015. Zusätzlich gibt es seit 2009 noch die „Nordic Defense Cooperation“ der nordischen Länder. Das Ende des Kalten Kriegs bedeutet also kein Ende der Militärbündnisse, sondern eine Erweiterung, allerdings nur auf einer Seite.

Blockfreie Staaten

Bei all diesen, vorwiegend die USA und Europa betreffenden Militärbündnissen, darf man nicht den Rest der Welt übersehen. Und in diesem dominieren jene Länder, die keinem Militärbündnis angehören. Die größten Länder der Erde – Indien und China – gehören zu keinem Militärbündnis, ebenso der Großteil Afrikas, Russland und Südamerika zu einem bedeutungslosen.

Die größte Gruppe ist die „Bewegung der Blockfreien Staaten“ (NAM), die 1955 bzw. 1961 gegründet wurde: Indien, das heute bevölkerungsreichste Land der Erde, war federführend bei der Gründung. Der NAM gehören 120 Staaten mit 55 Prozent der Weltbevölkerung an, sie hat zwei Drittel der Sitze in UN-Generalversammlung inne. Dennoch bleibt die Organisation im Westen weitgehend unbeachtet. Betrachtet man die Themen und Beschlüsse der letzten Sitzung im Jänner 2024, so bemerkt man, dass sich diese Länder mit völlig anderen Fragen beschäftigen als Europa und der Westen. Der Nachteil dieser Organisation liegt in ihrer Unverbindlichkeit, etwa hinsichtlich des Völkerrechts. So etwa hatte Aserbaidschan 2023 den Vorsitz inne, als es die Nachbarregion Berg-Karabach überfiel!

Global gesehen ist Neutralität also die Regel – und nicht, wie man uns in Europa suggeriert, die Ausnahme. Und die Frage, ob Neutralität gefährlich sei, beantwortet sich somit von selbst. Auch wenn man dem Gedanken folgt, wie es wäre, wenn alle Staaten neutral wären – oder wenn alle zwei oder drei Militärbündnissen angehören würden. Was wäre eine größere Gefahr für den Weltfrieden?

Angesichts eines aktuellen Ringens, ob eine unipolare oder multipolare Welt die Zukunft prägt, gewinnt die Neutralität wieder eine neue Bedeutung. Das zeigte sich etwa an der Debatte um die Neutralität der Ukraine 2014. Die Ukraine sollte auf einen Nato-Beitritt verzichten, weil Russland seine Sicherheit bedroht sah, sowie die Milizen im Osten des Landes nicht weiter unterstützen. Doch beide Seiten waren dazu letztlich nicht bereit. Die Folgen sind bekannt.

Zum Weiterlesen:

Heinz Gärtner, Internationale Sicherheit: Definitionen von A–Z, Baden-Baden 2008.

John Lewis Gaddis, The Long Peace: Elements of Stability in the Postwar International System, in: International Security 4/1986, S. 99–142.

Vgl. Maartje Abbenhuis, An Age of Neutrals Great Power Politics, 1815–1914, Cambridge 2014, S. 172.

Gudula Walterskirchen

Herausgeberin Libratus

Artikel als Audio anhören

Artikel weiterempfehlen

Artikel drucken

Unbegrenzter Zugang zu allen Inhalten

Gratis Testabo für 4 Wochen
Ein Monatabo oder das
günstigere Jahresabo

Sie sind bereits Libratus-Abonnent?
Melden Sie sich hier an: