
Urteil in „Pfizergate“ gesprochen – und jetzt?
Die EU-Kommission hat gemäß dem Gericht der Europäischen Union nicht „plausibel“ genug erklärt, warum sie die Herausgabe der Chats zwischen ihrer Präsidentin und dem Pharmakonzern-Chef verweigert. Doch wird dieser Spruch tatsächlich eine Aufarbeitung des milliardenschweren Corona-Impfstoffdeals bringen? Unterdessen hat Ursula von der Leyen gerade den Karlspreis für ihre „Verdienste“ rund um Europa verliehen bekommen. Eine Analyse.
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35 Milliarden Euro. Auf dieses Volumen sollen sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Pfizer-Chef Albert Bourla in mehreren Textnachrichten geeinigt haben. Die Betonung liegt auf „sollen“, denn welcher Betrag genau im Frühjahr 2021 für die circa 1,8 Milliarden Biontech/Pfizer-Corona-Impfstoffdosen vereinbart wurde, ist nicht bekannt. Ginge es nach der EU-Behörde, wäre dem auch so geblieben. Schließlich seien Handynachrichten „kurzlebig“ und daher nicht dokumentationswürdig. Journalisten der New York Times haben das anders gesehen, gegen die Herausgabeverweigerung geklagt und nun auch Recht bekommen.
„Das Gericht gibt der Klage statt und erklärt die Entscheidung der Kommission für nichtig“, urteilte das Gericht der Europäischen Union EuG in Luxemburg am 14. Mai 2025. Journalisten bejubeln diesen Schritt. Auf den ersten Blick ist es auch ein Sieg, besonders hinsichtlich Transparenz. Denn Handynachrichten dürfen damit eben nicht mehr als „kurzlebig“ kategorisiert und einfach gelöscht werden.
Letztes Wort noch nicht gesprochen
Wirft man einen tieferen Blick in die Materie, kann einem das Jauchzen aber auch schnell wieder vergehen. Und das aus mehreren Gründen.
Erstens ist das Urteil noch nicht rechtskräftig. Die EU-Kommission kann im Laufe von zwei Monaten dagegen berufen. Ob sie das auch tun wird, geht aus ihrer Stellungnahme nicht hervor. „Die Kommission wird nun die Entscheidung des Gerichts genau prüfen und über die nächsten Schritte entscheiden“, heißt es darin.
Eigene Transparenzregeln umgangen
Zweitens hat es auch schon vor dem EuG-Spruch ein Recht auf Informationsfreiheit gegeben. Dieses ist sowohl in Artikel 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union als auch in der EU-Verordnung 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der EU-Organe und obendrein im „Vertrag über die Europäische Union“ verankert. Sprich bereits in ihrem Gründungsvertrag steht in Artikel 10, dass Entscheidungen „so bürgernah wie möglich“ getroffen werden müssen.
Auf ihrer eigenen Website schreibt die EU dazu: „Demnach sind die EU-Institutionen verpflichtet, öffentlich zu handeln und sicherzustellen, dass Einzelpersonen und jede natürliche oder juristische Person mit Wohnsitz oder satzungsmäßigem Sitz in einem EU-Land Zugang zu Dokumenten haben.“ Über genau diese, nämlich ihre eigenen Prinzipien hat sich die EU-Kommission hinweggesetzt – und das in einer derart dreisten Weise, dass das Gericht sich zu einer vergleichsweise scharfen Tadelung veranlasst sah.
Herzog (li.) übergibt Alfred Bourla (re.), CEO von Pfizer, 2022 den Genesis-Preis, auch als "jüdischer Nobelpreis" bezeichnet. © CommonsWikimedia.
Denn es existieren Ausnahmen bei der Veröffentlichung von Dokumenten – diese müssen allerdings auch begründet werden. Laut Gericht hätte die EU-Kommission aber eben „nicht plausibel“ erläutern können, warum sie angeblich nicht mehr über die Dokumente verfügt. Der Anwalt der EU-Kommission wäre nicht imstande gewesen, zu erklären, ob die Nachrichten auf Von der Leyens Handy überhaupt gelöscht wurden und wenn ja, wann und wie.
Das EuG sei zu der Erkenntnis gelangt, dass die Antworten der EU-Kommission „über das gesamte Verfahren hinweg“ entweder auf bloßen „Annahmen“ beruht oder aus sich „laufend verändernden oder unpräzisen Informationen“ bestanden hätten. Im Gegensatz dazu sei es den Vertretern der New York Times gelungen, die „Vermutung der Nichtexistenz und des Nichtbesitzes“ der Nachrichten durch die EU-Kommission zu entkräften.
Was im Urteil steht – und was nicht
Die Urteilsbegründung führt allerdings auch zum dritten Punkt der Skepsis – nämlich ob dadurch wirklich eine Aufarbeitung des Falls „Corona-Impfstoffdeal“ erfolgen wird. Das Gericht schreibt zwar, dass die EU-Kommission glaubwürdiger ausführen müsse, warum man die Nachrichten nicht weitergeben könne – aber nicht, dass diese damit auch automatisch veröffentlicht werden müssten. Es müssten bloß „glaubwürdige Erklärungen“ vorgebracht werden, „die es der Öffentlichkeit und dem Gericht ermöglichen, zu verstehen, warum diese Dokumente nicht gefunden werden können“.
Obgleich das EuG schon festhält, dass die Kommission nicht nachvollziehbar begründen konnte, dass die Nachrichten keine relevanten Informationen enthalten und demnach ihre Dokumentation nicht nötig gewesen sein soll. Doch wenn die Daten längst gelöscht sind? Wie diese Vertuschung zu ahnden wäre, dazu äußert sich dieser Entscheid nicht.
Wiederholungstäterin Von der Leyen
Viertens: Dass man mit Löschungen von Textnachrichten nicht nur davon kommt, sondern mitunter sogar befördert wird, hat Ursula von der Leyen schon einmal vorexerziert. Als deutsche Verteidigungsminsterin stand sie wegen externer Beraterverträge unter erheblicher Kritik – auch des Deutschen Bundesrechnungshofs. Damals wurden ebenfalls wichtige Daten von Von der Leyens Diensthandys gelöscht. Sie waren nimmer gesehen. Bis zum heutigen Tag nicht. Konsequenzen gab es für die Politikerin nicht – zumindest keine negativen. Ursula von der Leyen wurde vielmehr nahtlos zur EU-Kommissions-Präsidentin geadelt. Und das, obwohl sie bei der EU-Wahl 2019 gar nicht als Spitzenkandidatin angetreten war.
Von der Leyen als "Flintenuschi" beim Mainzer Faschingsumzug 2015. © CommonsWikimedia/Kandschwar (Original).
Sie selbst äußert sich zum Fall „Pfizergate“ nicht. Und auch wenn viele Medien nun titeln, Von der Leyen hätte durch das Urteil „eine Schlappe“ erlitten, so ist davon bisher nichts zu sehen. Im Gegenteil. Die Kommissionspräsidentin tingelt weiter durch das Weltgeschehen, als wäre nichts gewesen.
Und am Donnerstag wurde sie nun auch noch mit dem „Internationalen Karlspreis zu Aachen“ ausgezeichnet. Und zwar „für ihre Verdienste um die Einheit der Mitgliedstaaten, die Eindämmung der Pandemie, die Geschlossenheit des Verteidigungswillens gegen Russland und die Impulse zum Green Deal einerseits sowie zur Ermutigung gegenüber den anstehenden Aufgaben“, wie das Direktorium ausführt.
Keine Einsicht zu erkennen
Fünftens geht aus der Stellungnahme der EU-Kommission zum „Pfizergate“-Urteil keinerlei Unrechtsbewusstsein hervor. Darin steht zu lesen: „Transparenz war für die Kommission und Präsidentin von der Leyen schon immer von größter Bedeutung“. Und das als Antwort auf einen Entscheid, welcher die EU-Kommission gerade wegen unrechtmäßiger Intransparenz verurteilt hat.
Der Wunsch nach dem Schlussstrich
Sechstens tendiert die Karawane des öffentlichen Interesses dazu, weiterzuziehen und äußerst selten an den Ort des Geschehens zurückzukehren. Ein Urteil wurde gesprochen. Dass dieses weder rechtskräftig noch mit politischen Konsequenzen versehen ist, wen interessiert das schon? Hinzu kommt, dass das Thema Corona gerade in den vergangenen Monaten anlässlich des 5-Jahres-Rückblicks in den Medien rauf und runter gespielt wurde.
Dass gewichtige Fragen weiter einer Aufklärung und noch viel mehr einer kritischen Aufarbeitung harren, exemplifiziert die Intransparenz des Impfstoffdeals vor. Hier geht es um Milliarden an Steuergeld, nicht um irgendeinen Geheimdienst-Einsatz. Durch die Veröffentlichung droht nicht die Preisgabe einer Ermittlungstaktik, dafür könnte sie aber Korruption ans Tageslicht befördern. Mal sehen, ob der Wille zur Aufklärung tatsächlich so weit reicht.♦