
Warum der Zwang zur digitalen Identität?
Sie dringt in immer mehr Lebensbereiche vor: die ID Austria. Was für die einen ein bequemes Angebot ist, wird für andere zur Pflicht. Lehrerinnen und Lehrer müssen den elektronischen Identitätsnachweis neuerdings verwenden. Sie sind nicht die einzigen. Auftakt einer Artikel-Serie.
Artikel als Audio anhören
Meldebestätigung, Sozialversicherung, Steuer, Antrag auf Familienbeihilfe. Die Liste an Amtswegen, die sich mittels elektronischem Identitätsnachweis „ID Austria“ erledigen lassen, ist lang. Laut Bildungsministerium sind davon mehr als 200 Online-Anwendungen diverser Behörden aber auch der Wirtschaft umfasst. Sie reicht von Geburts- bis zu Todesanzeigen und soll dementsprechend laut aktuellem Regierungsprogramm auch „bereits bei der Geburt ausgestellt“ werden. Das Service geht also wortwörtlich von der Wiege bis zur Bahre.
Dabei wird auf Libratus-Anfrage vom zuständigen Bundeskanzleramt, respektive dem Sprecher des dort angesiedelten Digitalisierungs-Staatssekretärs Alexander Pröll, betont: „Alles basiert auf Freiwilligkeit. Das Recht auf ‚analogen Verkehr‘ für Bürgerinnen und Bürger ist seit 2024 im E-Government-Gesetz ausdrücklich verankert.“ Die Amtswege können tatsächlich auch noch ohne ID Austria erledigt werden. Anders gestaltet es sich im Berufsleben. Dort wird der digitale Ausweis in immer mehr Bereichen obligatorisch.
Seit diesem Sommersemester sind Lehrerinnen und Lehrer in Österreich verpflichtet, in das digitale System „Sokrates Bund“ mittels ID Austria einzusteigen, um dort die Noten ihrer Schülerinnen und Schüler einzutragen. Weigern sie sich, gilt dies als „Dienstpflichtverletzung“, wie das Bildungsministerium gegenüber Libratus bestätigt. „Sokrates“ werde „von allen weiterführenden Bundesschulen genutzt“, schreibt die Behörde. Manche privat- und landesgeführten Einrichtungen greifen weiterhin auf andere Modelle zurück.
Können oder müssen?
„Bis 2030 soll jede Person in Österreich eine ID Austria besitzen und damit alle Amtswege online erledigen können“, heißt es im aktuellen Regierungsprogramm. Ist es ein „Können“, oder doch zunehmend auch ein „Müssen“? Darauf antwortet das Bildungsministerium mit einem: Sowohl als auch. Einerseits betont man dort: „Für den Behördenverkehr der Bürgerinnen und Bürgern wird es neben dem digitalen auch weiterhin einen analogen Weg geben.“
Gleichzeitig heißt es aus dem Ministerium: Anders gestalte sich die Sache im Berufsleben. Hier sei es legitim, diesbezügliche Verpflichtungen an sein Personal zu stellen. Für Lehrerinnen und Lehrer bedeute das: „Der Dienstgeber legt wie in allen Arbeitsbereichen so auch in der Schule fest, wie bestimmte Datenverarbeitungsprozesse zu erfolgen haben. Und er hat dafür auch die Verantwortung wahrzunehmen, sowohl für Datensicherheit als auch Datenschutz. Dies liegt auch im Interesse der Dienstnehmer/innen, weshalb die verpflichtende Einführung der Multifaktorauthentifizierung mithilfe der ID Austria mit den Zentralausschüssen (Lehrergewerkschaft) abgestimmt wurde.“
Thomas Lohninger, Geschäftsführer des Datenschutz- und Grundrechtevereins „epicenter.works“, widerspricht. „Das Beispiel der Lehrerinnen und Lehrer, die ihre Noten nicht ohne ID Austria eintragen können, ist klar illegal gemäß dem neuen EU-Gesetz, das die ID Austria im November 2026 ablösen wird.“ Genau genommen verstößt es gegen die „eIDAS-Verordnung 2024“. Das dort verankerte Diskriminierungsverbot hat „epicenter.works“ erstritten.
Datenschutz-Experte Thomas Lohninger. © CommonsWikimedia.
Unterdessen gilt die berufliche ID-Verpflichtung keineswegs nur für Lehrer. Auch Bedienstete mancher Landeskliniken müssen ihren Gehaltszettel via elektronischem Identitätsnachweis abwickeln, berichtet Lohninger. Selbstständigen, die eine Honorarnote an eine bundesstaatliche Einrichtung stellen, wird mitgeteilt, eine ID Austria sei dafür Voraussetzung. Hinzu komme, dass Nutzerinnen und Nutzer der App zunehmend bevorzugt werden, erzählt der Datenschützer und bringt ein Beispiel: das Parkpickerl. „Wer dieses analog ausfüllt, zahlt in einigen österreichischen Städten bereits einen bis zu 30 Prozent höheren Preis, im Vergleich zu jenen, die es über die ID Austria erledigen.“
Diese Bevorzugungen, beziehungsweise Benachteiligungen verstoßen ebenso gegen EU-Recht, erklärt Lohninger. Bei „epicenter.works“ trudle momentan „eine Vielzahl an Beschwerden über die ID Austria“ ein. Der Verein sammelt und anonymisiert sie und berichtet darüber auf seiner Webseite.
Lehrer haben keine Wahl
Eine Diskussion über diesen breitflächigen Zwang hat es nicht gegeben. „Im Februar 2025 hieß es plötzlich: der Zugang zum ‚Sokrates‘-System ist im Sommersemester nur mehr über die ID Austria möglich“, berichtet Lehrerin H. aus Wien, die anonym bleiben möchte. Denn ihr Name tue nichts zur Sache, ihr Fall stehe repräsentativ für viele. Und Zuschriften von erzürnten Pädagogen an Libratus bestätigen dies. Martin Gasser hat vor einem Monat einen Brief an Bildungsminister Christoph Wiederkehr geschrieben. Man könne ihn gerne auch nennen, „denn alle betroffenen Stellen wissen ohnehin schon Bescheid. Ich habe diesbezüglich also nichts mehr zu verlieren“. Geantwortet hat ihm der Minister bislang nicht.
„Subtiler Schubser“
Für den Lehrer stellt die ID Austria einen „schweren Eingriff in die Privatsphäre“ dar. „Und ich darf an dieser Stelle festhalten, dass eine große Anzahl von Lehrkräften meine Sichtweise teilt.“ Lehrer müssen nun die entsprechende App auf ihrem persönlichen Smartphone installieren, oder als Alternative einen sogenannten „FIDO2-Token“ nutzen, über welchen man via Fingerabdruck ins System einsteigt. „Der sieht ein bisschen aus wie ein schmaler, schwarzer USB-Stick“, schildert Lehrerin H. aus Wien. Sie hat sich für diese Alternative entschieden. Dass es eine solche gibt, musste sie allerdings selbst herausfinden. „Informiert wurden wir darüber nicht.“ Sie habe den Token auch vorläufig aus eigener Tasche bezahlt. Circa 50 Euro habe er gekostet. Das sei zwar nicht die Welt – aber es gehe ihr ums Prinzip, erklärt H. Wie komme sie dazu, als Angestellte selbst für das Equipment aufzukommen, das sie zur Erfüllung ihres Dienstauftrages benötigt, ärgert sich die Lehrerin. Libratus reicht die Frage an das Ministerium weiter.
E-Government
„Viele Lehrpersonen verwenden die ID Austria bereits für ihre privaten Behördengänge. Dies ist eine selbstverständliche Entwicklung im Rahmen des e-Governments, an der auch der Bildungsbereich teilnimmt“, heißt es von dort. Und des Weiteren: „Wenn eine Lehrperson das private Smartphone dafür nicht benutzen möchte, stellt die Schule einen FIDO2-Token zur Verfügung. Das wird aus dem Budget der Bundesschulen bezahlt, das die Schulen für den Sachaufwand vom Bildungsministerium erhalten.“
Lehrerin H. müsste also das Geld von ihrer Schule zurückverlangen. Angenehm sei diese Bittstellung für sie nicht. „Die Administration hat mir mitgeteilt: Ich solle mir das mit der Direktorin ausmachen, alle anderen hätten schließlich auch die ID Austria auf ihrem Handy.“ Diese Aussage habe sich für sie wie ein „subtiler Schubser“ angehört. „Und daher dachte ich mir: Ok, ich frage jetzt nicht weiter nach. Und wenn es ungut wird, dann zahle ich es mir halt selbst.“
Vermischung von Privat und Beruf
Dass nicht viele diesen Weg beschreiten, bestätigen Zahlen aus dem Ministerium. Insgesamt seien durch Schulen Token für 1,7 Prozent des Lehrpersonals bestellt worden. Für H. steht fest: „Ich möchte die ID Austria nicht auf meinem persönlichen Handy haben“. Erstens wolle sie Privates von Beruflichem trennen. „Seit Corona breitet sich die Digitalisierung ohnehin schon wie selbstverständlich aus. Und keiner scheint das in Frage zu stellen. Für uns Lehrer bedeutet das aber oft mehr Arbeitsaufwand.“ Womit die Lehrerin zu ihrem zweiten Kritikpunkt kommt: „Ich sehe keinen Mehrwert darin. Im Gegenteil. Der Einstieg über die ID Austria frisst zusätzlich Zeit. Ich mache jetzt alles doppelt. Ich trage die Noten ins ‚Sokrates‘-System ein und notiere sie mir auch noch auf Papier. Denn was passiert, wenn wirklich einmal ein breitflächiger Stromausfall kommt, dann sind all diese Daten weg.“ Wobei H. hinzufügt: manche ihrer Kollegen erachten die ID Austria als bequem. Sie selbst sehe das anders. „Warum benötige ich zum simplen Noteneintragen auf einmal eine digitale Identität?“.
Auf diese Frage antwortet das Ministerium: „Die ID Austria dient dazu, die Risiken des Datenmissbrauchs deutlich zu reduzieren.“
Preisgabe biometrischer Daten
Dieses Argument kann Thomas Lohninger von „epicenter.works“, zum Teil nachvollziehen. „Dafür gibt es eine gewisse rechtliche Grundlage, denn die Noteneintragung muss von der Lehrerin oder dem Lehrer selbst getätigt werden. Und hier ist es legitim, dass man sicherstellt, dass es sich dabei tatsächlich um diese Person handelt.“ Die ausschlaggebende Frage sei, ob das unbedingt über eine ID Austria passieren muss, für deren Verwendung man obendrein biometrische Daten preiszugeben hat. Beim Token identifiziert man sich via Fingerabdruck, bei der App entweder mittels Fingerprint oder Gesichtsscan. Das schieße klar übers Ziel hinaus, meint der Datenschützer. Das Sicherheitsargument lässt er hier nicht gelten. Zwar seien biometrische Merkmale wie ein Fingerabdruck einzigartig und daher sicherer als ein schlechtes Passwort a la „1,2,3“. Gleichzeitig gibt Lohninger zu bedenken: „Sein Gesicht kann man nicht einfach ablegen oder seinen Fingerabdruck ändern, wenn die Daten in die falschen Hände geraten.“ Es gäbe gute Alternativen der Multifaktorauthentifizierung, die mit Zeichencodes auskommen.
Entscheidend sei die Freiwilligkeit. Lohninger vermisst eine breite Debatte über einen sinnvollen und verhältnismäßigen Einsatz dieser Technik. „Wenn analoge Alternativen einmal abgeschafft werden, dann ist es ganz schwierig, solche Prozesse wieder rückgängig zu machen. Und dann haben wir wirklich einen ID Austria-Zwang, der gewisse Berufsschichten und vielleicht irgendwann auch alle Menschen betrifft.“
Schlagend wird das schärfere Diskriminierungsverbot der „eIDAS-Verordnung 2024“ erst Ende November 2026. Dann muss die österreichische ID Austria in das EU-weite System eingegliedert werden. Und bis dahin? Betroffene könnten natürlich versuchen, vor Gericht zu ziehen, erklärt Lohninger. Ob alle dafür die Zeit, das Geld und die Nerven haben, sei aber fraglich. „Deswegen braucht es den öffentlichen Druck. Diese Fälle von ID Austria-Zwang dürfen nicht unwidersprochen bleiben“, unterstreicht der Datenschützer.
Wer ist verantwortlich?
Unwidersprochen lässt das im Bundeskanzleramt angesiedelte Digitalisierungs-Staatssekretariat diesen Zwangs-Vorwurf nicht: Dieser gehe nämlich nicht von ihnen aus. Ob eine ID Austria als Authentifizierungsmethode zum Einsatz komme, obliege weder dem Bundeskanzleramt noch dem Staatssekretariat, es hänge „von der Beurteilung und Entscheidung des für die jeweilige Datenverarbeitung zuständigen Verantwortlichen“ ab. Dementsprechend könne man auch keine Auskunft geben, wie viele Berufsgruppen bereits dazu verpflichtet sind, eine ID Austria zu nützen.
Das Staatssekretariat verweist auf „die zuständigen Verantwortlichen“, ohne diese konkret zu definieren. Das Bildungsministerium spielt den Ball weiter zu den Schulen und spricht von einer „selbstverständlichen Entwicklung im Rahmen des e-Governments“. Und an den Schulen wird so getan, als handle es sich um eine Anordnung von höherer Stelle, an der kein Weg vorbeiführe, erzählt Lehrerin H. „Ich habe das Gefühl, diese Befehle kommen immer von oben und wir unten müssen uns dann daran halten.“
Gegen ein schwammiges „Oben“ kann man sich schwer zur Wehr setzten. Ein pauschalisierendes „Oben“ und „Unten“ kann auch auch schnell als „Verschwörungserzählung“ abgetan werden.
Mit Verschwörung habe die Situation aber nichts zu tun, sagt „epicenter.works“-Geschäftsführer Lohninger. Die digitalen Identitätsnachweise hätten ihre Vorteile, entscheidend sei, mit welchen Mitteln man sie umsetzt. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der beruflich dazu gezwungen wird, dieser Technik dann privat großes Vertrauen schenkt.“
Lehrerin H. bestätigt das: „Mich hat dieser Zwang skeptisch gemacht. Ich fühle mich irgendwie wie der Frosch im Kochtopf, bei dem man Schritt für Schritt die Temperatur immer höher dreht. Bei mir hat das dazu geführt, dass ich jetzt beispielsweise meine Belege für die Krankenkasse wieder mit der Post verschicke.“
Angebot oder Verpflichtung
Eine öffentliche Umfrage auf der Plattform „Facebook“ zeigt: viele Menschen stehen der ID Austria ambivalent gegenüber. Einige begrüßen sie. Ein Herr schreibt: „In vielen Belangen ist die ID Austria eine enorme Erleichterung, zum Beispiel für mich als Unternehmer im Umgang mit dem Finanzamt oder der Sozialversicherung. Die Möglichkeit, gewisse Ausweise zusätzlich in einer digitalen Version am Handy verfügbar zu haben, ist eine feine Annehmlichkeit.“ Nachsatz: „Letztlich bin ich aber der Auffassung, dass bei heiklen Dingen (noch?) das Papier der sicherere Standard für die Bürger ist.“
Das Digitalisierungs-Staatssekretariat kontert: die ID Austria entspreche der „höchsten Sicherheitsstufe“ des EU-weiten „eIDAS Kooperationsnetzes“.
Die technische Umsetzung ist ein eigenes Kapitel. Dasselbe gilt für die anfallenden Metadaten und damit Bewegungs- und Verhaltensmuster, die sich aus dieser Technik herauslesen lassen. Dementsprechend werden diese Themen eigens in Libratus-Folgeartikeln beleuchtet.
Recht auf analoges Leben
„Mir geht es auch um das Recht auf ein analoges Leben“, wirft Lehrerin H. ein. Dieses haben zwei der drei derzeit regierenden Parteien – nämlich ÖVP und SPÖ – rund um die Nationalratswahl 2024 zugesichert, erinnert Thomas Lohninger von „epicenter-works“. Viel übrig geblieben ist davon nicht. Libratus hat das aktuelle Regierungsprogramm durchforstet. Dabei zeigt sich: die Austria ID wird 10-mal erwähnt, der digitalen Identität, respektive ihrem Ausbau, ist auch ein eigenes Kapitel gewidmet. Das Wort „digital“ scheint 203-mal auf. Der Bereich der „analogen“ Angebote kommt hingegen 10-mal vor und das Recht auf „analoges Leben“ wird einmal dezidiert als solches angesprochen. „Wir haben drei Stellen identifiziert, die auf ein Recht auf analoges Leben hindeuten“, präzisiert Lohninger. „Aber das sind alles nur Willensbekundungen. Oft geht es dabei um Altersdiskriminierung.“ Dieser vorzubeugen, sei auch wichtig. Denn betagte Menschen hätten oft Schwierigkeiten mit der Verwendung von Smartphones und digitalen Angeboten. Im Regierungsübereinkommen ist „in Ergänzung zu digitalen Angeboten“ von einem „einfachen, barrierefreien, inklusiven und diskriminierungsfreien Zugang zu Informationen und Angeboten des öffentlichen Lebens“ die Rede, „um eine Teilhabe und ein analoges Leben für alle Menschen, die in Österreich leben, zu ermöglichen.“
Der Datenschützer vermisst konkrete Maßnahmen. Lippenbekenntnisse seien „zu kurz gegriffen.“ Es brauche eine gesetzliche Verankerung.
Das Thema ID Austria und digitale Identitäten wird uns noch lange beschäftigen. Es geht jetzt erst richtig los.
Zum Weiterlesen:
Lesen Sie dazu im Libratus Magazin auch: Der digitalisierte Mensch