Das Ende der Aufklärung - der Tod der Tatsachen
Die Aufklärung galt Jahrhunderte lang als Meilenstein. Das Sichtbare verdrängte jedoch Transzendenz und Glauben. Doch bedeutet dies nicht, dass sich damit auch die unverstellte Sicht auf die Realität durchgesetzt hat.
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Jahrhundertelang war die Aufklärung die bestimmende geistes- und kulturgeschichtliche Bewegung. Die Proklamation der Menschen- und Freiheitsrechte gilt – unbesehen des blutigen Kontextes der Französischen Revolution – als Meilenstein. Der große Paradigmenwechsel erfolgte im Zugang zur Wirklichkeit: endgültig übernahm die sichtbare Wirklichkeit die absolute Vorherrschaft und verdrängte die Transzendenz, den Glauben und die Religion als determinierende Größen.
Voltaires programmatischer Schlachtruf „Ecrasez l’infame!“ („Rottet das Abscheuliche aus!“) mit dem der Prototyp des politischen Schriftstellers seine Briefe zu unterzeichnen pflegte, zielte unmittelbar darauf ab, die Macht der Kirche und ihren „Aberglauben“ zu beseitigen. Die Beziehung zu einer unsichtbaren Welt und die Relevanz kirchlicher Autorität dünnten kontinuierlich aus. Im 20. Jahrhundert missbrauchten atheistische Diktaturen spirituelle Sehnsüchte, und im Gegenzug waren die Kirchen in ihrem Verhältnis zu den Machthabern gespalten. Dies schwächte die Kirchen weiter – ungeachtet dessen, dass viele gläubige Menschen zu Märtyrern wurden. Ein Dietrich Bonhoeffer etwa hatte im KZ Flossenbürg in seinem berühmten Abschiedstext „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ jene andere Welt bezeugt: „die Welt, die unsichtbar sich um uns weitet …“.
Durch die zunehmende Reduktion der Wirklichkeit auf das Sichtbare wurde es im Laufe der Zeit schwieriger, jenen Hoffnungs- und Bezugsraum der Ewigkeit, der wesentlich zur christlichen Botschaft von Tod und Auferstehung gehört, offen zu halten.
Die Enzyklopädisten bemühten sich im 18. Jahrhundert um eine Systematisierung des Wissens, um ein großangelegtes wissenschaftliches Abgreifen der Wirklichkeit. Bereits 40 Jahre vor der Französischen Revolution verkündete Jean le Rond d’Alembert in seiner Einleitung zur „Encyclopédie“, der Mensch solle „das aus Wissen handelnde Subjekt der eigenen Geschichte“ sein. Ein optimistisches Bild der menschlichen Vernunft, Erkenntnis- und Lernfähigkeit ließ die stolze Hoffnung auf absolute geistige Durchdringung der Welt und grenzenloses Wissen wachsen: “Wir wissen, dass die Entfernung von der Erde zum Himmel unendlich ist, und unterlassen es trotzdem nicht, den Turm von Babel zu bauen“ (Denis Diderot).
Der Vorrang des Zähl- und Messbaren
Das sinnenmäßig Erkennbare, das unmittelbar Vorliegende bildete den Ausgangspunkt der Wissenschaften und des Denkens. Dies brachte eine Fokussierung auf das Faktische, das sinnenhaft Wahrnehmbare, einen Vorrang des Zähl- und Messbaren mit sich. Empirie ist das Stichwort, der Vorrang des Physischen vor dem Metaphysischen wurde im Zuge der Aufklärung zum selbstverständlichen Paradigma. Eine Kultur der Tatsachen prägte sich als Ideal aus.
Und wo stehen wir heute? 235 Jahre nach dem Sturm auf die Bastille sind wir in vielem „Kinder der Revolution“ geblieben. So lassen wir gerne – ohne seine Existenz gänzlich auszuschließen – den „lieben Gott einen guten Mann sein“. Wir präsentieren uns lieber als selbstbewusste Agnostiker denn als Pilger auf der Suche nach jenem persönlichen Gott, der uns in Christus entgegenkommt. Doch die weitgehende Irrelevanz der Transzendenz und des Göttlichen bedeutet heute im Umkehrschluss keineswegs mehr eine Kultur der Tatsachen, des Sichtbaren und Evidenten. Denn eine gewaltige Anti-Realitätsbewegung scheint immer mehr Fahrt aufzunehmen.
Die folgenden Phänomene sind Symptome dieser Dynamik.
Seit Jahren werden von der Plagiatsforschung akademische Arbeiten untersucht, die fremdes geistiges Eigentum nicht als solches ausweisen. Doch was passiert dann? Fast schon ritualisiert versichern die des Plagiats Beschuldigten in den Medien, „nach bestem Wissen und Gewissen“ gearbeitet zu haben. Nach mehr oder weniger großer Aufregung und langen Untersuchungen finden die entsprechenden Kommissionen dann – im Widerspruch zu den evidenten Plagiaten – meist „keine relevanten Vergehen“. Was aber geschieht, ist eine Opfer-Täter-Umkehr, denn angegriffen werden die Aufdecker. Fakten auf den Tisch zu legen und akademisches Fehlverhalten zu dokumentieren, gilt als geradezu unanständig. Da spielt es wenig Rolle, auf welch tönernen Füssen so mancher akademische Grad steht, dass Qualifikationen unterhöhlt und ehrliche Akademiker möglicherweise benachteiligt werden: In Bezug auf Plagiate wird weggeschaut, die Tatsachen werden ignoriert.
Die Anti-Realitätsbewegung
Eine andersgelagerte Art der Realitätsverweigerung zeigt sich in der Reaktion auf die folgenden zwei Vorkommnisse:
Monatelang war 2023 in Wien ein 12jähriges Mädchen schwerem sexuellen Missbrauch durch eine Bande von 18 Jugendlichen ausgesetzt, die Täter waren zum Teil unter 14 Jahren! “Die mutmaßlichen Täter hätten österreichische, syrische, türkische Staatsbürgerschaften, weiters gebe es jeweils eine Person mit italienischem, bulgarischem und serbischem Pass“, schrieb der Wiener „Standard“, der an anderer Stelle festhielt: „alle haben Migrationshintergrund oder einen ausländischen Pass“.
Wie überall in Europa – Henryk Broder veröffentlichte kürzlich eine entsprechende Chronik - gibt es auch in Wien an diversen Hotspots immer wieder Messerangriffe durch Migranten. Ein Beispiel: Im Frühling dieses Jahres verteidigte ein 21jähriger Grundwehrdiener am Wiener Reumannplatz zwei Frauen, die durch eine Gruppe von Jugendlichen mit Migrationshintergrund belästigt wurden. Ein 18jähriger Syrer attackierte den Soldaten mit einem Messer und fügte ihm Stichverletzungen im Rücken und am Oberschenkel zu. Dass es sich bei all dem nicht um Einzelfälle, sondern ein strukturelles Problem handelt, belegt die Kriminalitätsstatistik in etlichen europäischen Ländern.
Nach diesen und ähnlichen Vorfallen kündigte der österreichische Innenminister ein Maßnahmenpaket gegen „Jugendkriminalität“ an. Eine offenkundige Realitätsverweigerung. Auf die brutalen Vorfälle wurde zwar politisch reagiert, doch geht das Wording über den Kern des Problems hinweg, es suggeriert eine völlig andere Realität. Denn, nicht „Jugendkriminalität“ generell ist das Thema, sondern vielmehr ganz konkret Migrationskriminalität. Verharmlosendes und verschleierndes Vokabular entkernt die Wirklichkeit und kann in der Folge sehr leicht zu falschen Maßnahmen an der falschen Stelle führen.
Leugnung der Biologie
Ein charakteristisches Merkmal der Anti-Realitätsbewegung ist, dass alles angezweifelt und nichts Gegebenes mehr als Tatsache akzeptiert wird. Selbst das angeborene Geschlecht, das anatomisch und genetisch objektiv vorliegt, wird in Frage gestellt. Und die Lage ist mittlerweile so verquer, dass derjenige, der den ideologischen Vorrang des sozialen Geschlechts vor dem biologischen Geschlecht nicht akzeptiert, sogleich als „rechts“ und „fundamentalistisch“ gilt. Das Ausscheren aus dem betreuten Denken und dem kuratierten Sprechen wird mit Verachtungsvokabular geahndet.
Die Trans-Bewegung treibt die Apotheose der Selbstbestimmung auf die Spitze, indem sie sich mit radikalen Interventionen bis hin zu chirurgischen Eingriffen und hohen Hormongaben gegen den eigenen Körper wendet. Kritisches Hinterfragen ist unerwünscht, obwohl international die Bewegung der „Detransitioners“ längst vor einer grundsätzlich affirmativen Haltung gegenüber „transitionswilligen“ Jugendlichen warnt. Die Behauptung von „geschlechtsangleichenden“ Maßnahmen täuscht, denn trotz allem ist doch immer nur eine Imitation des anderen Geschlechts möglich, während oft andere Gründe, wie etwa psychische Probleme, nicht beachtet und nicht behandelt werden.
Im Fahrwasser einer dominanten Anti-Realitätsbewegung gehen die Tatsachen als Bezugspunkte geistiger Verortung unter. Der Tod der Tatsachen signalisiert das Ende der Aufklärung. – Die Wirklichkeit ist nur zu retten, indem wir sie annehmen, wie sie ist und sie auch so zur Sprache bringen.
Gudrun Trausmuth
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