
Die Muslimbrüder – ein gefährlicher Geheimbund
Die Muslimbruderschaft ist die älteste und größte Bewegung des politischen Islam. In Europa existiert sie offiziell nicht. Kritiker widersprechen: Muslimbrüder verheimlichen im Westen ihre Zugehörigkeit und verschleiern ihre islamistischen Ziele, um demokratische Institutionen zu unterwandern. Vor zehn Jahren wollte die Muslimbruderschaft angeblich ihr Hauptquartier nach Graz verlegen.
Artikel als Audio anhören
Graz, 2011: Ein Ägypter und sein Assistent besichtigen Immobilien. Sie suchen große Räumlichkeiten für ein Büro, wie sie sagen. Der Ägypter ist Ayman Ali, Jahrgang 1966, in der Grazer Islamszene kein Unbekannter, aber auch europaweit bestens vernetzt.
Offiziell verdient Ayman Ali in Graz sein Geld mit einer Holzexportfirma – was ihn in das Visier der inländischen Behörden bringt. Sie ermitteln gegen ihn wegen Korruption. Seine Firma diene ihm als Briefkastenfirma für Geldwäsche und Visa, so der Verdacht.
Zudem ist der Ägypter ständig unterwegs und besucht andere europäische Länder, ehrenamtlich, wie es heißt, in seiner Funktion als Generalsekretär der Föderation Islamischer Organisationen in Europa (FIOE). Dieser 1989 gegründeten Dachorganisation gehören islamische Organisationen in ganz Europa an. Sie hat ihren Sitz in Brüssel, unweit wichtiger EU-Institutionen. Ali setzt sich vor allem für die Ausweitung der Aktivitäten der FIOE in Osteuropa ein.
Zu den Mitgliedsorganisationen der FIOE gehört der österreichische „Liga Kultur-Verein für multikulturellen Brückenbau“, der in Graz die Al-Nur-Moschee betreibt. Ali ist Mitglied dieses Vereins und fungiert in der Moschee als Imam.
Umtriebe der Muslimbrüder?
Das Pikante: Alle genannten islamischen Einrichtungen gehören laut Geheimdiensten zum Netzwerk der Muslimbruderschaft, der ältesten und größten islamistischen Bewegung. „Der Liga Kultur-Verein ist eine österreichische Organisation mit ideologischer, struktureller und persönlicher Nähe zur Muslimbruderschaft“, urteilt die österreichische Dokumentationsstelle Politischer Islam. „Sie ist ideologisch stark an den Ideen der Muslimbruderschaft ausgerichtet“. Hier würden sich „Aktivisten und Sympathisanten der ägyptischen, syrischen und, in geringerer Zahl, anderer nahöstlicher Zweige der Bruderschaft“ einfinden.
Auch eine umfassende Analyse des Dachverbands FIOE, der sich seit 2020 „Council of European Muslims (CEM)” nennt, kommt zu dem Schluss, „dass es sich um die erste und wichtigste der verschiedenen paneuropäischen Organisationen handelt, die vom Netzwerk der europäischen Bruderschaft gegründet wurden, um ihren Einfluss auf die europäischen Institutionen und auf den gesamten Kontinent auszuweiten“.
Eine brennende Moschee der Muslimbruderschaft in Alexandria, Ägypten, 1954. © CommonsWikimedia.
Was Alis Suche nach Büroräumlichkeiten zusätzlich brisant macht: Wenig später berichteten britische Medien über Umzugspläne der Muslimbruderschaft: Der Sitz ihres offiziellen Medienbüros in London soll – man höre und staune – nach Graz verlegt werden. Ein europäisches Hauptquartier soll entstehen.
Das könnte die heimischen Sicherheitsbehörden alarmiert haben. Denn die Muslimbruderschaft wird von westlichen Nachrichtendiensten durchwegs kritisch bis sehr negativ gesehen, wie eine Zusammenstellung des Muslimbruder-Experten Lorenzo Vidino zeigt.
„Ziel islamistisches Regime“
Der österreichische Politikwissenschaftler und Extremismusexperte Nicolas Stockhammer warnt gegenüber „Libratus“ vor der islamistischen Gruppierung: „Das langfristige extremistische Ziel ist die Unterwanderung des demokratischen Rechtsstaates, teilweise sogar die Abschaffung demokratischer Strukturen und deren Ersetzung durch ein islamistisches Regime“.
Laut Stockhammer, der an der Donau-Universität Krems einen Lehrgang zur Terrorismusbekämpfung leitet, setzte sich nach und nach „auf wissenschaftlicher und politischer Ebene sowie bei den Sicherheitsbehörden die Erkenntnis durch, dass zwischen der Muslimbruderschaft und dschihadistischen Organisationen primär ein struktureller Unterschied besteht: Die Muslimbruderschaft versucht, sich einen Weg zur Macht zu bahnen, allerdings auf legalem Wege – daher spricht man auch vom legalistischen Islamismus.“ Die Muslimbrüder gingen subversiv vor: „Sie versuchen, Organisationen und Strukturen zu kapern und zu unterwandern, um schließlich ihre islamistischen Ziele, etwa die Einführung der Scharia, in die Politik umzusetzen. Es hat einige Zeit gedauert, bis dies in vollem Umfang erfasst wurde.“
Zu wenig ernstgenommen
Viele Sicherheitsbehörden nehmen die Gefahr der Muslimbrüder noch immer zu wenig ernst, findet der Historiker sowie Antisemitismus- und Extremismus-Experte Heiko Heinisch: „Der Verfassungsschutz sollte sich intensiver mit der Muslimbruderschaft beschäftigen“, fordert er gegenüber „Libratus“. „Erstens widerspricht ihre Ideologie dem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, wie ihre Texte und die Predigten in den Moscheen eindeutig belegen. Zweitens inspirieren die Muslimbrüder mit ihrer Ideologie andere zu Gewalt. Muslimbrüder und Dschihadisten verfolgen in letzter Konsequenz beide dasselbe Ziel – die Errichtung eines weltweiten islamischen Staates – aber sie wenden unterschiedliche Strategien an.“ Heinisch hat mehrere Studien zu den Muslimbrüdern und zu den österreichischen Moscheen durchgeführt und verfasst, unter anderem für den Integrationsfonds.
Top-Berater in Kairo
Ali streitet das alles ab. Er will damals von einer Nähe zur Muslimbruderschaft nichts wissen. Er habe sich immer von Ideologien ferngehalten, betont er in einem Interview. Es gilt für ihn die Unschuldsvermutung. Dass Verbindungen zwischen der Muslimbruderschaft und der Führung der FIOE bestehen, bestreitet er energisch: „Solche dürftigen Behauptungen machen mich traurig. Ich weise sie zurück.“ Die FIOE betätige sich „am hellen Tageslicht“, in aller Öffentlichkeit.
Doch nach diesem Interview im Jahr 2011 nimmt Alis Lebensweg eine überraschende Wendung. Zwar gründet er in Graz kein neues Zentrum der Muslimbruderschaft, dafür zieht es ihn nach Kairo: 2012 wird er Top-Berater des ägyptischen Präsidenten und Muslimbruders Mohammed Mursi, kurz nachdem dieser die Wahlen gewonnen hatte. Im Zuge des Arabischen Frühlings und des Rücktritts von Präsident Hosni Mubarak wird damals die Muslimbruderschaft in Ägypten erstmals als politische Bewegung zugelassen und nach der Wahl Mursis zum Präsidenten kurzzeitig auch politisch relevant.
Großdemo in Kairo nach dem Amtsantritt Mursis gegen die Muslimbruderschaft. © 123FR Bildagentur; Mohamed Hanno.
Derselbe Ali, der noch kurz zuvor mit der Muslimbruderschaft und Ideologien generell nichts zu tun haben wollte, wirbt zunächst in Graz bei der ägyptischen Diaspora für Mursi. Später wird er „Berater des ägyptischen Präsidenten für die Angelegenheiten der Ägypter im Ausland“. Es existieren Aufnahmen, auch auf YouTube, die ihn im Gespräch mit dem damaligen Präsidenten zeigen. Vielleicht fühlte er sich jetzt sicherer. „Damals setzte im westlichen Diskurs eine Verharmlosung ein“, sagt Stockhammer.
Doch es kommt anders: 2013 wird das Mursi-Regime gestürzt und Ali verhaftet. Bis heute sitzt er im ägyptischen Gefängnis. Eine offizielle Facebook-Seite von ihm als Berater Mursis existiert weiterhin.
Ayman Ali zu Besuch bei Ägyptens Staatschef und Muslimbruder Mursi. © Libratus/Youtube, Screenshot.
Der Verfassungsschutz war alarmiert angesichts von Ayman Alis Umtrieben. Alis Aktivitäten in Graz sind den österreichischen Behörden nicht entgangen, wie seine in der Steiermark verbliebene Familie – Frau, zwei Töchter und ein Sohn – wenig später zu spüren bekommt. Sie suchte um Erhalt der österreichischen Staatsbürgerschaft an, doch vergeblich: Das Landesverwaltungsgericht Steiermark verweigert allen Mitgliedern die Staatsbürgerschaft, gestützt auf einen Bericht des steirischen Landesamtes für Verfassungsschutz, der Alis Verstrickungen in die Machenschaften der Muslimbruderschaft und der Terrororganisation Hamas – dem palästinensischen Ableger der Muslimbruderschaft – dokumentiert. Im April und September 2016 weist das Landesverwaltungsgericht zwei Beschwerden der Familie gegen diese Entscheidung ab: Auch Familienangehörige eines Mitglieds der Muslimbruderschaft seien der Muslimbruderschaft zuzurechnen, da die Muslimbruderschaft in Familien organisiert sei.
Proteste nach dem Sturz Mursis und den Muslimbrüdern in Kairo 2013. © CommonsWikimedia.
Alis Tätigkeit bei FIOE und Al-Nur-Moschee spielt in der Begründung des Gerichts eine wichtige Rolle. Tatsächlich geben manche FIOE-Mitglieder und Aktivisten rund um die Grazer Moschee ihre Sympathie mit den Muslimbrüdern auch offen zu. Doch alle bestreiten, dieser Organisation anzugehören, was auch bei Muslimen auf Kritik stößt. 2008 meint Mohammed Ezzat Gowayed,2008 meint Mohammed Ezzat Gowayed, Präsident des Grazer Islamischen Zentrums, bezüglich der Grazer Al-Nur-Moschee: „Der Verein wird von Muslimbrüdern geführt. Gegenüber Politikern behaupten die Mitglieder permanent, sie seien keine Muslimbrüder. Aber das stimmt nicht: Sie sind Muslimbrüder.“
Weltweites Netzwerk
Die Muslimbruderschaft wurde 1928 von dem jungen Arabischlehrer Hassan al-Banna und sechs Arbeitern im ägyptischen Dorf Ismailiya gegründet. Die auf den ersten Blick harmlose Gruppe kümmerte sich um islamische Bildung und karitative Hilfe, besonders wichtig war ihr die Jugendarbeit.
Doch dabei blieb es nicht. Politische Macht im Namen des Islam ist ein weiteres ideologisches Ziel: „Wir erkennen kein Herrschaftssystem an, das nicht auf dem Islam basiert und aus ihm stammt", verkündete al-Banna. „Wir wollen den muslimischen Menschen, dann die muslimische Familie, dann die muslimische Gesellschaft, dann die muslimische Regierung, und schließlich die muslimische Nation (gemeint ist die ‚Umma‘, die weltumspannende islamische Gemeinschaft)“.
Später wurde die Muslimbruderschaft zu einer Massenbewegung, und ihre verschiedenen Ableger in den arabischen Ländern gingen genau diesen Weg: Sie engagierten sich zunächst sozial, gründeten dann eine Partei und bekämpften ihre Gegner mit bewaffneten Organisationen. Offizielle Ableger der Muslimbruderschaft gibt es heute beispielsweise in Ägypten und Jordanien. In Europa gibt es hingegen offiziell nur das Medienbüro in London. Auf Dachverbände wie die FIOE angesprochen, sagen Vertreter der Muslimbruderschaft aus arabischen Ländern: Man müsse zwischen der Muslimbruderschaft als Organisation und der Muslimbruderschaft als Denkweise unterscheiden. In Europa gebe es nur letztere.
Zugehörigkeit geleugnet
Beobachter der Muslimbruderschaft wie Heiko Heinisch, aber auch Nachrichtendienste widersprechen: Selbst Persönlichkeiten, die eindeutig der Muslimbruderschaft angehörten, leugneten ihre Zugehörigkeit. „Ein Grund dafür liegt in ihren Herkunftsländern, wo sie aufgrund von Verfolgung gezwungen waren, im Untergrund zu arbeiten“, meint Heinisch. Als die Muslimbrüder nach Europa migrierten, behielten sie die Geheimhaltung bei, „um die Familien in den Herkunftsländern zu schützen und diese auch besuchen zu können. Mittlerweile wissen sie aber, dass die Geheimhaltung in Europa strategische Vorteile bringt, werden die Muslimbrüder doch mittlerweile in der öffentlichen Wahrnehmung zurecht mit islamischem Extremismus in Verbindung gebracht.“
Zum Weiterlesen:
Lorenzo Vidino, The Muslim Brotherhood in Austria, 2017
Dokumentationsstelle Politischer Islam, Der Liga-Kultur-Verein in Österreich, 2021
Lorenzo Vidino und Sergio Altuna, The Muslim Brotherhood’s Pan-European Structure, 2021
Lorenzo Vidino, Verbatim: What European Security Services Say About the Muslim Brotherhood in Europe, 2023
Heiko Heinisch und Lorenzo Vidino, Organisationen des politischen Islam und ihr Einfluss in Europa und Österreich, 2021