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Soldat und mobile Raketenbasis vor brennendem Hintergrund
© Bild:123RF Bildagentur; Ilkin Quliyev.

Gerät der Krieg in der Ukraine außer Kontrolle?

Die Spirale der Eskalation im Ukraine Krieg dreht sich immer schneller. Die Gefahr eines dritten Weltkriegs wächst. Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, den Krieg auf diplomatischem Weg zu beenden. Das neutrale Österreich sollte sich engagiert für den Frieden einsetzen.

General i.R. Günther Greindl | Kommentar | 22. November 2024

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Jeder Krieg neigt zur stetigen Steigerung der Gewalt. Das Phänomen der Eskalation beschreibt Carl von Clausewitz in seinem Werk „Vom Kriege“ so: „Krieg ist ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen; so gibt jeder dem anderen das Gesetz, es entsteht eine Wechselwirkung, die dem Begriff nach zum äußersten führen muß.“

Der Krieg in der Ukraine ist ein Musterbeispiel fortschreitender Eskalation. Was 2022 als lokaler militärischer Konflikt begann, hat mit der Entscheidung der USA, ihre an die Ukraine gelieferten ATACMS- Mittelstreckenraketen für die Bekämpfung von Zielen in Russland freizugeben, eine gefährliche Stufe der Eskalation erreicht. Die Zielaufklärung und die Programmierung der Raketen wird unter Nutzung westlicher Satellitensysteme und mit amerikanischem Fachwissen erfolgen. Für Russland ist das der endgültige Beweis, dass sich die USA de facto in einem Krieg mit Russland befinden. Nachdem Großbritannien und Frankreich ihre Marschflugkörper Storm Shadow/SCALP ebenfalls freigegeben haben, droht ein Raketenkrieg mit Russland. Auch deutsche Politiker, allen voran CDU-Chef Friedrich Merz, fordern die Freigabe des Marschflugkörpers TAURUS. Bundeskanzler Olaf Scholz hat mit gutem Grund diesem Druck widerstanden, weil damit Deutschland de facto mit Russland im Krieg wäre. Die Spirale der Eskalation dreht sich inzwischen mit großer Geschwindigkeit weiter. 

Einsatz von Atomwaffen

Präsident Putin hat am 19. November 2024 die aktualisierte Atomdoktrin unterzeichnet. Darin ist festgelegt, dass im Falle eines konventionellen Raketenangriffs auf russisches Territorium, der mit Unterstützung einer Atommacht vorgenommen wird, Russland den Einsatz von Atomwaffen in Betracht ziehen kann. Die Änderung der russischen Atomdoktrin ist ein Signal an den Westen, die Unversehrtheit Russlands ernst zu nehmen. Nach dieser Doktrin könnte die Beschießung russischen Territoriums mit ATACMS zum Einsatz von Atomwaffen führen. Am gleichen Tag veröffentlichten die Außenminister Deutschlands, Frankreichs, Polens, Spaniens und Großbritanniens, nach einem Treffen in Warschau, eine gemeinsame Erklärung, in der sie der Ukraine ihre unerschütterliche Unterstützung zusagen. Weiters heißt es darin, dass Russland die europäische Sicherheitsarchitektur systematisch angreife und sich weigere, die Aggression zu beenden oder ernsthafte Gespräche zu führen. Damit ist wohl die vorletzte Stufe der Eskalation erreicht.

Offener Krieg gegen Russland?

Kommt es zu einem offenen Krieg der NATO gegen die Atommacht Russland? US-Präsident John F. Kennedy hat aus der Kubakrise 1962 eine entscheidende Lehre gezogen: „Man darf eine Atommacht nicht in die Enge treiben. Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende!“ Stehen wir unmittelbar davor, dass dieser Krieg der Menschheit ein Ende setzt?

Trotz der ständigen Kriegsrhetorik gibt es auch Gründe, die gegen die Gefahr eines Atomkriegs sprechen. Atomwaffen dienen der Abschreckung und sollen Kriege verhindern. Ihre Anwendung überschreitet eine Schwelle, die sich jeder weiteren Kontrolle entzieht. Mit der Aktualisierung der Atomdoktrin will Putin den Westen an diese Tatsache erinnern. Donald Trump hat in einer Stellungnahme klargestellt, dass er den Krieg in der Ukraine beenden wird.

Rote Linie überschritten

Präsident Joe Biden hat gegen den Willen der künftigen US-Administration eine weitere rote Linie überschritten. Putin wird diese besonderen Umstände in sein Kalkül für die Gegenmaßnahmen mit einbeziehen. Die Freigabe der ATACMS wird die Existenz Russlands nicht gefährden und der Ukraine nicht mehr nützen. Es ist in seinem Interesse, für die verbleibenden zwei Monate, bis zum Amtsantritt von Trump, die Kriegshandlungen mit konventionellen Waffen in der Ukraine weiter zu führen und seine militärische Überlegenheit noch für Geländegewinne zu nutzen.

Die europäischen Politiker bekräftigen jedoch trotz der gefährlichen Eskalation ihren Kriegskurs. Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine wurde die sogenannte Zeitenwende ausgerufen. Die Ukraine muss siegen, Europa muss kriegstüchtig werden, sonst wird Putin die NATO angreifen und das ehemalige Sowjetimperium wieder errichten. Diese Annahme ist nicht glaubwürdig. Russland mit seiner schrumpfenden Bevölkerung, mit einer Fläche von 17 Millionen Quadratkilometern und mit riesigen unerschlossenen Bodenschätzen in der Arktis, kämpft nicht um Territorium. Welchen Nutzen sollte Russland von der Eroberung europäischer Staaten haben? Der Krieg in der Ukraine ist kein Vorbote eines russischen Expansionsdranges.

EU auf Krieg fixiert

Die EU ist bereits so auf den Krieg fixiert, dass sie nicht mehr fähig ist, in Alternativen zu denken. Als Viktor Orbán zu Beginn der ungarischen Ratspräsidentschaft Gesprächskanäle zu Putin öffnen wollte, herrschte in der EU helle Aufregung. Sie befindet sich nämlich unter dem Einfluss der NATO auf einem geopolitischen Irrweg. Die EU hat ihren Grundgedanken einer Friedens- und Handelsmacht, die in Äquidistanz zu den Machtblöcken eine eigenständige Stimme hat, aus den Augen verloren. Sie beklagt, dass Russland die europäische Sicherheitsarchitektur angreift und vergisst dabei, dass eine dauerhafte Sicherheit in Europa nicht gegen, sondern nur mit Russland möglich ist. Europa wird nur dann eine Rolle in einer künftigen Weltordnung spielen, wenn es Frieden mit Russland schließt. Wer diese Gedanken vertritt, wird nicht gehört oder sogar verunglimpft. Karel Schwarzenberg hat einmal gesagt, dass alle Probleme davon herrühren, dass Russland seine Grenzen nicht kennt. Es brauchte zwei Weltkriege, um im Westen die Grenzen so weit zu klären, dass Westeuropa seinen Frieden finden konnte. Braucht es einen dritten Weltkrieg um die Grenzen Russlands zu besiegeln? Gäbe es dann noch einen Sieger? Nach Carl von Clausewitz ist der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Es ist die Kunst der Politik, den Zeitpunkt zu erkennen, wann der Krieg zur Politik zurück kehren muss. Die Fortsetzung des Kriegs in der Ukraine wird niemandem nützen.

Neue Sicherheitsarchitektur

Nach Beendigung des Kriegs in der Ukraine wird eine grundlegende Neuordnung der euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur erforderlich werden. Eine unabhängige EU könnte mit den USA und Russland eine strategische Triade bilden, die einen Friedensraum von San Francisco bis Wladiwostok bilden würde. Die OSZE ist eine auf Vertrauensbildung aufgebaute europäische Erfindung der kooperativen Sicherheit, deren Rahmen für die Verhandlung einer künftigen stabilen Sicherheitsarchitektur bestens geeignet ist. Die verloren gegangenen Errungenschaften der OSZE wieder zu beleben, wäre das Fundament einer neuen euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur.

In diesem Sinne sollte Österreich als Sitzstaat der OSZE eine Initiative für eine Wiener Friedenskonferenz, einen zweiten Wiener Kongress, ergreifen. Diese Idee in der EU mutig zu vertreten könnte jener spezifische Beitrag der österreichischen Neutralität sein, von dem Alois Mock in seiner Erklärung anlässlich des Beitritts zur EU sprach. Jetzt, wo der Krieg droht, außer Kontrolle zu geraten, wäre für Österreich der Zeitpunkt gekommen, sich von der Kriegslogik zu verabschieden und die friedenspolitische Seite der engagierten Neutralität leuchten zu lassen. Wäre das nicht eine Politik für die man die österreichischen und europäischen Bürger begeistern könnte?

General i.R. Günther Greindl

Gastautor bei Libratus

Mag. DI Günther Greindl ist österreichischer Generalstabsoffizier im Ruhestand. Er war Leiter der Generalstabsgruppe für Sicherheitskooperation im BMLV und erster Militärrepräsentant Österreichs bei der EU und NATO. Er hatte verschiedene Auslandsverwendungen und war kommandierender General der Blauhelme in Syrien-Israel, in Zypern und in Irak-Kuwait. 2013 wurde ihm der „Egon Ranshofen-Wertheimer-Preis“ für Verdienste um das Ansehen Österreichs im Ausland verliehen.

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