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Lockerung bei Gentechnik: Was steht auf dem Spiel?

In der Europäischen Union diskutiert man die Deregulierung von Neuen Genomischen Techniken (NGT) in der Landwirtschaft. Man wolle damit den Einsatz von Pestiziden reduzieren. Auch verlange der Klimawandel nach hitze- und schädlingsresistenten Sorten, heißt es seitens der EU-Kommission. Doch halten diese Argumente, was sie versprechen? Und was bedeuten die Pläne für die Lebensmittelsicherheit der EU-Bürger? Während Saatgut- und Chemiekonzerne auf eine Deregulierung drängen, werden viele kritische Stimmen laut.

Alexandra Wimmer | Gesundheit | 03. September 2024

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Der Einsatz von Gentechnik ist in der EU bislang streng geregelt. Gentechnisch veränderte Lebensmittel sind vom Feld bis zum Teller rückverfolgbar und gekennzeichnet, für den Anbau gibt es hohe Auflagen. Auf der Packung oder am Regal muss gut ersichtlich sein, ob ein Lebens- oder Futtermittel ein gentechnisch veränderter Organismus (GVO) ist oder gentechnisch veränderte Bestandteile enthält. Diese Kennzeichnungspflicht gilt ab einem GVO-Anteil von 0,9 Prozent. Produkte von Tieren (z.B. Milch, Eier, Fleisch), die mit Gentechnik-Produkten gefüttert wurden, wie etwa Soja, sind von der Kennzeichnungspflicht ausgeschlossen.

Seit 2015 gibt es bei den aktuell geltenden Richtlinien für die Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung in nationales Recht eine Ausstiegsklausel. Manche Länder, wie etwa Österreich, haben diese genutzt: Auf dieser Basis gilt laut österreichischem Gentechnikgesetz ein Anbauverbot für alle gentechnisch veränderten Organismen. Gentechnikfreiheit ist nämlich für österreichische Konsumenten ein wichtiges Kriterium bei der Kaufentscheidung. Doch dies soll sich bald ändern, denn eine Lockerung des Gentechnikgesetzes ist in Diskussion. Und dies wird weitreichende Folgen haben.

Das Prinzip dieser neuen Genomtechniken besteht darin, die bestehenden Genome einer Pflanzensorte zu mutieren, ohne Gene von außerhalb der Art hinzuzufügen. Denn, so wird von Herstellern argumentiert, es handle sich nicht um herkömmliche Gentechnik. Im Sinne des Vorsorgeprinzips müssen jedoch auch NGT-Verfahren über das EU-Gentechnikgesetz geregelt werden, lautet die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 25. Juli 2018. Eine Risikoabschätzung ist demnach auch für diese Produkte verpflichtend.

Im Sommer 2023 hat die EU-Kommission nun eine Überarbeitung des aktuell geltenden EU- Gentechnikrechts eingeleitet: Der Umgang mit NGT in der Landwirtschaft soll gelockert werden. Konkret soll es für Pflanzen, die mithilfe NGT so verändert wurden, dass sie kein artfremdes Genmaterial enthalten, zukünftig nur eine Anmeldepflicht bei den zuständigen nationalen Behörden, aber kein Zulassungsverfahren mehr geben. Mit diesem entfallen auch die Risikoprüfung und das Monitoring nach der Vermarktung. Die Hersteller begrüßen daher die Lockerungen und die Einführung einer neuen Kategorie.

 

 Wegweisender Entscheidungsprozess?

Das EU-Parlament stimmte der Vorlage der Kommission im Februar 2024 im Wesentlichen zu. Doch während der Kommissionsvorschlag eine Kennzeichnung nur für Saatgut vorsah, plädiert das EU-Parlament auch für die Kennzeichnung daraus hergestellter Lebens- und Futtermittel. NGT-Pflanzen oder deren direkte Produkte sollen in Zukunft mit dem Etikett „Neuartige Genomische Verfahren (NGV)“ gekennzeichnet bleiben – damit wäre immerhin die Wahlfreiheit für Konsumenten gesichert.
Aktuell ist offen, wie der Entscheidungsprozess weitergeht. Sollten sich Kommission, Parlament und Rat einigen, wird die NGT-Verordnung unmittelbar in der EU gelten, und Österreich wird sein restriktives Gentechnik-Gesetz novellieren müssen.
Die Entscheidung könnte zudem richtungsweisend für weitere Bestrebungen sein: Der Kommissionsvorschlag ist zwar auf die Anwendung bei Pflanzen beschränkt. Vorarbeiten zur Regelung der Anwendung bei Mikroorganismen und Tieren laufen allerdings bereits.

 Lebensmittelsicherheit in Gefahr?

 Mit den Plänen der neuen Gentechnik-Gesetzgebung steht viel auf dem Spiel: Ist das neue gentechnisch veränderte Saatgut einmal auf den Feldern ausgebracht, kann dies kaum rückgängig gemacht werden, warnt man bei der Umweltorganisation Global 2000. Behörden wie das Österreichische Umweltbundesamt kritisieren außerdem, dass Auswirkungen auf die Sicherheit und Gesundheit von Umwelt und Mensch kaum berücksichtigt werden. Selbst intern gibt es scharfe Kritik am Gesetzesvorschlag der EU-Kommission: Der Ausschuss für Regulierungskontrolle, der jeden Gesetzesvorschlag vor dessen Veröffentlichung prüft, hat viele Mängel festgestellt.

Neue Pflanzenkategorien NGT 1 und NGT 2

Wo liegt nun der Unterschied zwischen „alter“ Gentechnik und „neuer“, also NGT? Bei der klassischen Gentechnik werden mithilfe molekularbiologischer Verfahren ein oder mehrere Gene (z.B. ein Bakterium) von anderen Organismen zufällig in das Erbgut, das Genom, eines Organismus eingebaut. Bei den neuen Gentechniken (=kann der Ort der Beeinflussung im Erbgut vergleichsweise präzise bestimmt werden. Häufig wird keine fremde DNA in den Zielorganismus eingebaut. Man nennt dies „Mutagenese“ oder „Genom-Editierung“. Techniken wie die Gen-Schere CRISPR/Cas ermöglichen es, Nutzpflanzen durch einfache, präzise und schnelle Eingriffe in das Genom gezielt zu verändern. Innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit können somit neue Kultursorten geschaffen werden.
In Zukunft will man in der EU zwischen klassischer Gentechnik und neuen genomischen Techniken unterscheiden. Zusätzlich sollen genetisch veränderte Pflanzen in zwei Kategorien (NGT1- und NGT2-Pflanzen) eingeteilt werden. In NGT 1-Pflanzen verbleibt keine Fremd-DNA, sie könnten auch durch natürliche Mutation entstehen. Sie machen die überwiegende Mehrzahl von Pflanzen aus und sollen nun weitgehend dereguliert werden. Für sie braucht es keine Zulassung mehr.
In NGT 2-Pflanzen ist noch Fremd-DNA enthalten. Für diese Kategorie sollen ähnliche Regelungen gelten wie für die klassische Gentechnik. Der Regulierungsentwurf der Kommission sieht jedoch vor, dass diese Pflanzen künftig vereinfacht zugelassen werden können, wenn sie bestimmte Nachhaltigkeitskriterien des „European Green Deal“ erfüllen (z.B. Stresstoleranz gegenüber Trockenheit und Hitze).

(Ungeklärte) Folgen für Umwelt und Mensch

Gentechnik wird in der Landwirtschaft seit 25 Jahren eingesetzt. Die Folgen für die Umwelt werden immer drastischer, heißt es bei Global 2000. Neben dem höheren Einsatz von Herbiziden und kaputten Böden zählen gesundheitsschädigende Auswirkungen auf Tiere dazu. „Multinationale Agrarkonzerne fördern mit Gentechnik weiter Monokulturen, vertreiben Kleinbauern und monopolisieren immer stärker das Nahrungsmittelangebot“, lautet die Kritik.
Und obwohl auch die neue Gentechnik inzwischen seit mehr als zehn Jahren eingesetzt wird, gibt es kaum praktische Erfahrung bei der Anwendung in der Landwirtschaft oder bei Lebensmitteln. Nur 1,6 Prozent ihrer Forschungsgelder haben die EU-Mitgliedstaaten für Risikoabschätzung, Monitoring und Nachweismethoden im Bereich der NGT aufgewendet.

Was der direkte Verzehr von Gentechnik-Pflanzen für Menschen bedeutet, ist nach wie vor kaum erforscht. „Im Zusammenhang mit gentechnisch veränderten Lebensmitteln werden in erster Linie zwei Gesundheitsrisiken diskutiert: das Entstehen neuer Allergien und weiterer Antibiotikaresistenzen“, informiert Global 2000.

 

Unbeabsichtigte Effekte als Risikofaktor

Zu den Risiken von NGT-Pflanzen zählen weiters unbeabsichtigte Effekte beim Einsatz der Gen-Schere CRISPR/Cas im Erbgut der Pflanzen. „In wissenschaftlichen Publikationen wird immer wieder von unerwünschten Nebeneffekten berichtet: Die Veränderung ist nicht zu 100 Prozent zielgerichtet, Fremd-DNA verbleibt im Organismus, obwohl sie eigentlich vollständig entfernt werden sollte“, informiert das österreichische Umweltbundesamt. Von Entwicklerseite heißt es zwar, dass die NGT im Unterschied zur klassischen Gentechnik viel zielgerichteter arbeiten würde und dass die damit erzeugten, genetischen Änderungen vergleichbar wären mit Änderungen, die auch bei konventionell gezüchteten Sorten auftreten könnten. „Solche Argumente lassen aber außer Acht, dass auch NGT auf biologischen Prozessen beruhen, bei denen es nie eine absolute Präzision geben kann. Zudem sagt die Genauigkeit, mit der Änderungen an bestimmten Orten im Erbgut, also in der DNA der veränderten Organismen vorgenommen werden können, noch nichts über die Sicherheit bzw. das Risiko der damit hergestellten Organismen aus“, heißt es im Umweltbundesamt. Eine Studie im Auftrag der Arbeiterkammer Wien zeigt anhand von Beispielen mögliche unbeabsichtigte Effekte der neuen Gentechnik auf.

Fragliche Erwartungen bezüglich Pestizidreduktion

Zu hinterfragen ist außerdem, ob durch NGT-Pflanzen tatsächlich, wie EU-Kommission und Industrie verlauten, der Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft reduziert werden kann. EU-Ziel ist eine Reduktion von 50 Prozent bis 2030. Ein Report von Global 2000 legt das Gegenteil nahe: Demnach führen NGT-Pflanzen ebenso wie mittels alter Gentechnik hergestellte Pflanzen letztlich zu einem erhöhten Einsatz von Pestiziden.
Damit nicht genug: Laut einer Untersuchung des Joint Research Center (JRC) der EU zielen sechs von 16 NGT-Pflanzen, die kurz vor der Marktreife stehen, auf Herbizidtoleranz ab.  Saatgut- und Chemie-Konzerne wie Bayer oder Corteva lassen sich das Gentech-Saatgut der herbizidtoleranten Pflanzen patentieren und verkaufen sie mit den dazugehörigen Pestiziden. Landwirte geraten in den Teufelskreis der Abhängigkeit von Biotech- und Saatgutkonzernen – ein weiteres Risiko, das im aktuellen Gesetzesvorschlag ignoriert wird.

Wichtige Risikoabschätzung und Monitoring

„Statt auf die unbegründete Hoffnung zu setzen, NGT-Pflanzen könnten zur Pestizid-Reduktion beitragen, sollte vielmehr in eine zukunftsweisende, agrarökologische und biologische Landwirtschaft investiert werden“, fordert Global 2000. Im Umweltbundesamt wünscht man sich ein Agieren im Sinne des Vorsorgeprinzips: „Vor einer Zulassung eines GVO in der Europäischen Union muss im Rahmen einer Risikoabschätzung überprüft werden, ob diese infolge unbeabsichtigter Veränderungen nachteilige Effekte auf die menschliche und tierische Gesundheit sowie die Umwelt haben können.“ Zudem brauche es ein Monitoring, um mögliche unerwünschte, langfristige Effekte zu erkennen und Maßnahmen wie eine Rückholung ergreifen zu können.

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Alexandra Wimmer

Autorin bei Libratus

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