Was sind eigentlich Verschwörungstheorien?
In den letzten Jahren ist der Begriff der „Verschwörungstheorie“ im öffentlichen Diskurs vielfach verwendet worden. Doch was macht eine Verschwörungstheorie eigentlich aus? Wie wird sie wissenschaftlich eingeschätzt? Und wurde der Begriff zu stark politisiert?
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Seit der Corona-Krise hat der Begriff „Verschwörungstheorie“ einen regelrechten Gebrauchsboom erlebt. Auch wenn es in der Tat absurde Verschwörungstheorien gibt, so kamen kritische Beobachter der letzten Jahre nicht umhin, eine Tendenz zu bemerken, dass bestimmten Ansichten sehr schnell das Negativ-Label „Verschwörungstheorie“ umgehängt wurde.
Nach dem Psychoanalytiker Thierry Simonelli handelt es sich bei diesem Terminus in seinem mittlerweile gängigen Gebrauch eher um ein Mittel, um Debatten im Keim zu ersticken, denn um eine wissenschaftliche Analysekategorie: „Die Idee der Verschwörungstheorie hat jeglichen Rest von sachlicher Begrifflichkeit abgestreift, um gänzlich zum ,gedankenbeendenden Klischee‘ zu werden: Wer in einer Diskussion oder einem Kommentar sein Gegenüber einer Verschwörungstheorie bezichtigt, kann ohne jegliche Argumente den Gesprächspartner disqualifizieren und das Gespräch auf bequeme Weise beenden.“
Verschwörungstheorie & Verschwörungshypothese
Beim ersten Hinsehen ist eine Erläuterung von „Verschwörungstheorie“ zunächst einfach: Es ist eine Theorie zu oder über Verschwörungen. Jeder, der sich mit Geschichte und Politik näher beschäftigt hat, wird zugeben müssen, dass es reale Verschwörungen gibt und stets gab: durch Politik, Geheimdienste, organisiertes Verbrechen usw. Die Möglichkeit einer Verschwörung ist daher nicht per se abzustreiten, es gibt genug Beispiele dafür.
Nur ist die Mutmaßung darüber ist genaugenommen noch keine abgeschlossene Theorie, sondern eine Hypothese; also die ergebnisoffene Annahme zu einer möglichen Verschwörung, die bei entsprechendem Entkräften auch fallen gelassen werden kann. All dies beschreiben auch Akteure wie die Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich kritisch mit Antisemitismus, Verschwörungstheorien und Rechtsextremismus auseinandersetzt.
Problematisch wird es laut Anetta Kahane, Vorstandsvorsitzende der Stiftung, eigentlich erst dann, „wenn […] Menschen ein geschlossenes Weltbild entwickeln, in dem nur noch und von allen Seiten Verschwörungen vorkommen […]. Es wird zu einer Ideologie. Solche Ideologien haben ein Konzept. In diesem Konzept gibt es keine unabhängigen einzelnen Ereignisse mehr, die eventuell von Leuten wissentlich und heimlich beeinflusst werden, sondern nur noch einen ganz großen Plan, der von bösen Mächten, die hinter den Kulissen agieren, umgesetzt werden soll.“
Wenn ein solch abgeschlossenes Weltbild vorhanden ist, wird dies in Fachkreisen als Verschwörungsideologie bezeichnet. Der Historiker Wolfgang Benz konkretisiert dies wiederum mit Blick auf den Begriff der Verschwörungstheorie folgendermaßen: „Zentrale Botschaft von Verschwörungstheorien ist stets die angebliche Feindschaft der Minderheit gegen die Mehrheit; die Aktionspläne der Minderheit werden ‚aufgedeckt‘, um Erklärungen zu finden für Naturkatastrophen, Unglücksfälle, Terror oder Krieg oder als Beweis für die Beherrschung der Welt durch finstere Mächte.“
Schwammige Begrifflichkeit
Das Problem an diesen Definitionsversuchen ist, dass die Begrifflichkeiten schwammig und als Analysekategorien schwierig voneinander abzugrenzen sind. Die versuchten gegenwärtigen Definitionen der Amadeu-Antonio-Stiftung etwa sind derart unscharf, dass die Übergänge zwischen Verschwörungstheorie, -ideologie, -glaube oder -mythos fließend zu sein scheinen, diese terminologische Unschärfe jedoch nicht thematisiert wird.
Aber einigen wir uns darauf: Eine Verschwörungsideologie ist ein Konzept, mit dem die Vorgänge der Welt insgesamt als durchwegs geplant beschrieben werden und stets als eine von einzelnen Individuen und Institutionen gesteuerte Systematik erkannt werden will. Diese verschwörungsideologische Ansicht ist von einem wissenschaftlichen (insbesondere historischen) Standpunkt aus in der Tat problematisch, da es die Handlungsspielräume von Akteuren bisweilen völlig überschätzt. Zufall, Willkür oder Dilettantismus der entsprechenden Akteure werden durch stete Absicht und klare Intention ersetzt und es wird eine Art hyperrationales Handeln hinter allen (politischen, gesellschaftlichen) Ereignissen angenommen.
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Des Weiteren gibt es Verschwörungstheorien, die als solche eindeutig widerlegt wurden. Ein Beispiel sind die „Protokolle der Weisen von Zion“, ein gefälschtes Schriftstück, das die angeblichen Pläne des Weltjudentums zur Erlangung der Weltherrschaft zum Gegenstand hatte. 1903 erstmals in Russland erschienen, wurden sie ab den 1920er Jahren im Kontext völkischer Strömungen und später im Nationalsozialismus als Propaganda gegen Juden verwendet. Bis heute werden sie u.a. im arabischen Raum, in islamistischen Kreisen oder unter Rechtsextremen gerne verwendet und zitiert, finden auf der ganzen Welt Verbreitung. Die Entstehung dieser Schrift im Frankreich und Russland Ende des 19. Jahrhunderts bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde von Historikern als Fälschung entlarvt; die Protokolle einer angeblich jüdischen Weltverschwörung sind letztlich ein Plagiat eines satirischen Textes des französischen Schriftstellers Maurice Joly und waren dann in unterschiedlichen Fassungen und Versionen im Umlauf.
Popper‘s Schwächen
Der Begriff „Verschwörungstheorie“ wurde erst durch den Wissenschaftstheoretiker Karl Popper näher wissenschaftlich besprochen. Auf Popper beziehen sich bis heute die wissenschaftlichen Disziplinen oder politische Stellen, die sich mit Verschwörungstheorien beschäftigen. Wenngleich Karl Popper für die Wissenschaftstheorie eine der wichtigsten Figuren des 20. Jahrhunderts darstellt, so offenbaren sich in seinen diesbezüglichen Ausführungen die Schwächen seines Werkes und die Möglichkeit der politischen Instrumentalisierung seiner Theorien. Ein Aspekt, den Thierry Simonelli mit Blick auf Poppers Involvierung in neoliberale Thinktanks näher besprochen hat.
Definitorisch erklärt Popper den Begriff folgendermaßen: „Diese Theorie behauptet, daß die Erklärung eines sozialen Phänomens in der Entdeckung besteht, daß Menschen oder Gruppen an dem Eintreten dieses Ereignisses interessiert waren und daß sie konspiriert haben, um es herbeizuführen. (Ihre Interessen sind manchmal verborgen und müssen erst enthüllt werden).“
Wäre dies eine nüchterne Feststellung, wäre diese Ausführung kein weiteres Problem. Im Kontext von Poppers weiteren Ausführungen wird jedoch klar, dass er solchen Theorien die Wissenschaftlichkeit immer und ausnahmslos abspricht. Seiner Meinung nach kann „die Verschwörungstheorie niemals richtig sein […]; denn diese Theorie behauptet ja, daß alle Ergebnisse, sogar jene, die auf den ersten Blick von niemandem beabsichtigt zu sein scheinen, die beabsichtigten Resultate der Handlungen von Menschen sind.“
Alltag für Historiker
Was Popper an dieser Stelle in Frage stellt, ist nicht weniger als die tägliche Arbeit von Historikerinnen und Historikern oder Politikwissenschaftlern: Gerade bei einschneidenden Ereignissen und Zäsuren gehört es zum Historiker-Einmaleins nach den federführenden Personen, Netzwerken und Institutionen, deren Agenden und finanziellen Mitteln zu fragen. Auch im (Investigativ-)Journalismus ist dieses Vorgehen gängige Praxis – was nicht heißt, dass deswegen alles gesteuert oder gelenkt ist.
Was sich bei Popper an dieser Stelle zeigt, ist, dass er das Thema der Verschwörungstheorie rein wissenschaftstheoretisch angeht, seine Definition der Prüfung durch die (Wissenschafts-)Geschichte – dies hatte schon der Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn angemerkt – aber nicht wirklich standhält. Popper selbst hat auch nie historisch oder journalistisch gearbeitet. Hier zeigt sich eine Diskrepanz zwischen der wissenschaftstheoretischen Auffassung von Ereignissen und der historischen Wirklichkeit. Wer würde es etwa für plausibel oder rational halten, dass sich eine deutsche Politiker-Elite heimlich in einer Villa trifft, um über die millionenfache Ermordung der europäischen Juden zu konferieren? Genau das ist jedoch bei der Wannsee-Konferenz 1942 geschehen.
Zum Weiterlesen:
Wolfgang Benz: Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Weltverschwörung. C.H. Beck, München 2007.
Imre Lakatos: Criticism and the growth of knowledge London: Cambridge Univ. Press 1992.
Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde Band II, Mohr Siebeck 2003, S.112.
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